von Stefan Bollinger
Große Koalitionen stärken die Ränder, so ein politologischer Lehrsatz. Der 17. September 2006 widerlegt ihn. Genauer, rechts haben sich wieder Neonazis durchgesetzt – nach Dresden jetzt in Schwerin. Aber sonst? Die stärkste Partei ist die der Nichtwähler. Verbittert über Politik und Politiker, enttäuscht über demokratische Willensbildung, die weder Arbeitslosigkeit, Sozialabbau noch Bildungswüste stoppt. Sie wenden sich von einstigen Hoffnungsträgern ab. Die Volksparteien liegen eh dem Volk auf der Tasche. Aber auch das Versprechen einer linken, anderen Politik zum Wohle der Bürger scheint gebrochen.
Ja, auf dem Papier gibt es eine Partei, die links stehen soll, der SPD Druck macht und soziale Errungenschaften der West-Arbeiterbewegung verteidigen will, gelegentlich gar sich jener erinnert, die ein Staat DDR neben seinen Schwachpunkten als Dauerherausforderung in der deutschen Geschichte festgeschrieben hat.
Die Großkoalitionäre ziehen mehr oder minder konsequent den neoliberalen Um- und Abbau durch, momentan ohne über ihre auf niedrigem Niveau angekommene Beliebtheit in der Gesellschaft unterm Wahlvolk ernsthaft verzweifeln zu müssen. Immerhin, ironischerweise erinnert sich die CDU – jüngst Rüttgers –, daß das Etikett Volkspartei ein Mindestmaß sozialer Kuscheligkeit erfordert, was die spröde Kanzlerin vielleicht auch erfaßt und deshalb den Streit um den weiteren Abbau der Kassen-Gesundheit noch bremst.
Das Phänomen ist ein anderes: Es ist das ausbleibende Erstarken des linken Flügels. 2005 kam die PDS dank Liebesheirat mit der WASG phönixgleich aus der Asche ihrer Politik hervor und zog beachtlich in den Bundestag ein, begann einen Parteibildungsprozeß, der eine Neue Linke, wie gern verkündet, zaubern soll. Ein Jahr später ist der Katzenjammer groß. Allein in Berlin – zugegebenermaßen bös gerechnet – haben die Hoffnungsträger von 2001 die Hälfte ihrer Wähler vergrätzt. Damals funktionierte noch die Logik der mißglückten Großkoalition.
Nur ist das Entsetzen vieler PDS-Politiker am Wahlabend etwas wunderlich. Ach, warum nur hat der Ost-Wähler sie abgestraft, die sie so brav den Regierenden Bürgermeister pflegeleicht als SPD-Juniorpartner im Sanierungsfall Berlin unterstützt haben?
Warum zählen nicht drei erhaltene Opern, sozial differenzierte Kita-Beiträge, offerierte plebiszitäre Demokratie? Vermissen die Ostberliner etwa ihre stadteigenen Wasserbetriebe, die Abrechnung mit den Bank-Skandalären, die 100 Professuren für DDR-Sozialisierte oder das Verhindern der Wohnungsprivatisierung …? Erwarteten nur Ostler von Rot-Rosa/Rot (?) mehr? Die Werkstatt der Einheit scheiterte am Problem Arm-Reich, an fehlender Arbeit, am Typ der praktizierten Demokratie. Ohne feste Pflöcke – die Erhaltung öffentlichen Eigentums, ein öffentlicher Beschäftigungssektor mit lebenswerten Löhnen, die Gewährleistung von Sozial- und Bildungsstandards – ist es wohl nicht sehr sozialistisch.
Wer heute Wähler nicht öffentlich schelten mag und nicht recht Selbstkritik will, übersieht, daß Links auf Dauer nicht als Politik des kleineren Übels geht. Das Ankommen in der Bundesrepublik und die Sozialdemokratisierung der PDS sind ebenso anti-sozialistisch ausgegangen wie einst die staatssozialistische Beglückung durch vormundschaftlichen Staat und Überpartei.
Nicht wenige PDSler haben ihre Stalinismuslektion gelernt. Doch bei dieser Gelegenheit wurde gleich alles mit in den Orkus gesteckt, was zu realsozialistischer Erfahrung zählte – vom staatlichen Eigentum bis zu einer an Arbeit gebundenen Sozialpolitik oder den lenkenden Möglichkeiten zentralistischer Strukturen. Noch problematischer ist: Die Geschichte des Reformweges zur Umgestaltung, gar Überwindung des Kapitalismus wurde ignoriert – einmal abgesehen davon, daß ein an Marx orientiertes Kapitalismus- wie Sozialismusverständnis und das Begreifen von Ausbeutung oder Macht nicht nur ihrer stalinistischen Verfälschung entkleidet, sondern generell zugunsten interessanter, aber eher beschreibender Sozialwissenschaft entsorgt wurden.
Ein Treppenwitz der Geschichte besteht zudem darin, daß die Linkspartei.PDS nun über eine demokratisch-sozialistische Führungsriege verfügt, die nicht nur der Erinnerung an Sozialdemokratie und Reformkommunismus abhold ist, sondern auch die nicht einmal die kurze gesamtdeutsche Geschichte zu analysieren oder gar zu begreifen scheint. Ganz abgesehen von den analogen Erfahrungen der SPD oder der Grünen und ihrer system-, das heißt kapitalismuskonformen Kleinübel-Anpassung hat die Führungscrew nicht begriffen, daß das Tête-à-tête mit der SPD letztlich im Osten Deutschlands nur einen – zweifellos wichtigen und eigentümlichen Wert – hervorgebracht hat: die Anerkennung, nun ja, durch das politische Establishment und durch die veröffentlichte Meinung. Allzu genau sollte allerdings auch dort nicht hingeschaut werden, selbst handzahme Rote bleiben Schmuddelkinder.
Wer sich erinnert, wie in Schwerin die PDS-Zustimmung binnen vier Regierungsjahren um acht Prozent auf 16,4 (2002) abstürzte, kann nur vor den dortigen Genossen den Hut ziehen, die sich diesmal wenigstens auf niedrigem Niveau stabilisierten; manche politische Geste in der zweiten Legislaturperiode erinnerte sogar an die rote Parteifahne. In Berlin sieht es düsterer aus. Vergessen ist die Bundestagswahlniederlage von 2002, als die Wähler sich für das Original und nicht für das versprochene Koalieren entschieden. Und vergessen ob der Frechheit der Berliner und Schweriner WASGler mit ihrem Alleinantritt war, daß die WASG zwar aus Protest gegen die neoliberal gewendete SPD entstand, aber zugleich aus Ablehnung der vermeintlich nostalgischen SED-Nachfolger, die vor eben dieser SPD einknicken.
Offen bleibt, was linke Politik bewegen kann. Sie muß Protest aufgreifen und selbst entwickeln, sie muß mit den Betroffenen gemeinsam und durch sie gedrängt Politik machen. Dann kann sie auch Regierungsverantwortung übernehmen. Aber sie muß sie auch wieder hinwerfen, wenn sie die Interessen der Betroffenen nicht oder nicht ausreichend durchsetzen kann. In Berlin wie Schwerin war hier Fehlanzeige. Loslassen können ist eine der netten psychologischen Formeln, die man von Eltern, Lehrern, Lebenspartnern in bestimmten Situationen fordert. Für Politiker auch aus den Reihen der Linksozialisten bleibt es ein Fremdwort.
Ohne Kenntlichkeit wird eine neue Linke unkenntlich, denn neu wird Allerweltsfloskel. Es bleibt zu hoffen, daß die SPD leichten Herzens auf die Pflegeleichten verzichtet. Allerdings wären sie da politisch dumm, denn ein weiteres Entzaubern würde das Projekt Linkspartei irreversibel kaputtmachen und die politisch Verantwortlichen entheben, sich nun wie wirklich angekommene Politiker zu verhalten, die haushoch verloren haben und nach hinten treten – sei es auch nur für eine Auszeit.
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