von Erhard Crome
Der Verkehrsminister Tiefensee, zugleich Beauftragter für die neuen Bundesländer in der derzeitigen Bundesregierung, hat kurz vor dem entsprechenden Feiertag den obligaten Bericht zum Stand der Dinge in Sachen deutsche Einheit vorgelegt. Er konstatiert, daß die Diskrepanz zwischen Ost und West in Produktion und »Wohlstand« weiter klafft und wohl weitere Jahrzehnte klaffen wird. Neue Ideen werden in dem Bericht nicht präsentiert: Konzentration der Fördermittel, Anwerbung ausländischer Investoren, Förderung wirtschaftsnaher Forschung – deren real existierenden, international beachtlichen Kapazitäten Anfang der neunziger Jahre ja gerade mit Bedacht zuerst zerstört wurden. Im Grunde ist dies nur ein weiterer Bericht zu diesem Thema, der von Licht und Schatten, von mehr Zeit, mehr Geduld und mehr Geld redet. Etwa zeitgleich wurde ein alternativer Bericht, der des Netzwerkes Ostdeutschlandforschung, vorgelegt, in dem nachgewiesen wird, daß es genau darum nicht gehen kann. Es ist ein grundsätzlicher Kurswechsel von Nöten.
Kein Territorium des dahingeschiedenen Realsozialismus ist so mit Mythen belegt worden wie die DDR. Das gilt allerdings auch für die jeweils nachgereichte Interpretation der nachwendischen Aneignungsprozesse. Im Frühjahr 1990 war ich Teilnehmer einer Diskussion im Ungarischen Kulturzentrum in Berlin, an der etliche der damaligen Großkopfeten unter Ungarns Ökonomen teilnahmen. Sie meinten, auch unter den Bedingungen der über uns kommenden Marktwirtschaft seien die Volkswirtschaften Ungarns und der DDR dermaßen materiell und strukturell aufeinander bezogen, daß auch unter den neuen Bedingungen der Außenhandel zwischen beiden ein stabilisierendes Element des Umbruchs sein werde. Die Einführung der D-Mark und die so bewirkte Großpleite der DDR-Betriebe zerstörte rasch die Grundlagen solcher Erwägung: Die Großbetriebe beider Länder fielen an das westdeutsche beziehungsweise westliche Kapital.
Dann kam der Mythos von den »blühenden Landschaften« des Kanzlers Kohl. Es blüht tatsächlich die Landschaft der stillgelegten Ackerflächen im Osten, sonst aber wenig. Danach kam der Kanzler Schröder, der den Osten zur »Chefsache« zu machen versprach. Es chefte zwar, nur in der Sache passierte nichts. Alle großmäuligen Versprechungen der Herrschenden Westdeutschlands in bezug auf den Osten haben sich als Luftnummern erwiesen, zumindest was Arbeitsplätze und eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung anbetrifft.
Wer ist schuld? Das ist eine gute alte Frage aus dem Gewissenswesen. Im Westen will man gern den Ossi als solchen haftbar machen. Er ist »verzwergt«, wie uns ein Großgelehrter aus der Frontstadt schon vor Jahren weismachen wollte, oder aber nicht »flexibel« genug. Aus Sicht des Ostens ist der Wessi als technokratischer beziehungsweise unternehmerischer Windbeutel schuld. Jedenfalls wird in subjektiven Dispositionen herumgepolkt und nicht wirklich nach den Verhältnissen gefragt.
Das versucht seit geraumer Zeit das Netzwerk Ostdeutschlandforschung. Es wurde im Frühjahr 2005 von sechs Instituten gegründet. Dazu gehören das Brandenburg-Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien e.V. (BISS), das Sozialwissenschaftliche Forschungszentrum Berlin (SFZ), das Thünen-Institut Bollewick/Müritz, das Zentrum für Sozialforschung Halle (ZSH), das Institut für Wirtschafts- und Sozialforschung Chemnitz (WISOC) und Berliner Debatte Initial (GSFPmbH). Hier haben wir im Grunde die Gesamtlandschaft der außeruniversitären, das heißt nicht vom bürgerlichen Mainstream okkupierten oder bestimmten Forschungslandschaft zum Themenfeld Ostdeutschland. Ziel des Zusammenschlusses ist die theoretische wie empirisch-deskriptive Analyse der Lage in Ostdeutschland. Die Initiatoren haben noch immer die Hoffnung, ein kreativer gesellschaftspolitischer Suchprozeß nach neuen Entwicklungsstrategien und Lösungskonzepten sei möglich, trotz aller Widrigkeiten der gemachten Politik und der Herrschaftsverhältnisse in diesem Lande. Berliner Debatte Initial publiziert jetzt in Heft 5/2006 den Bericht zur Lage in Ostdeutschland, der durch dieses Netzwerk erarbeitet wurde.
Ausgangspunkt der Analyse ist, daß die Entwicklung in Ostdeutschland Teil eines übergreifenden Umbruchs ist. In Ostdeutschland haben wir es nicht nur mit einer Transformation eines planwirtschaftlich-staatssozialistischen in ein marktwirtschaftlich-kapitalistisches Wirtschaftssystem zu tun. Diese Transformation ist selbst Moment der Erosion des früheren Wirtschafts- und Sozialmodells im Westen, das »Fordismus« genannt wurde und auf einer hohen Beschäftigungsquote sowie einem hohen Massenkonsum beruhte. Diese Transformation muß als ein offener Suchprozeß nach einem neuen, auf Zeit wieder funktionsfähigen Entwicklungsmodell moderner Gesellschaften verstanden werden. Es geht nicht um einen Transformationspfad auf ausgetretenen, bekannten Wegen, sondern um die Suche nach einem neuen Entwicklungspfad. Das jedenfalls ist die Grundannahme.
Um zu verstehen, weshalb es nicht zu einem selbsttragenden Aufschwung gekommen ist, der sinnvolle Lebensperspektiven eröffnet, hebt der Bericht vier Punkte hervor. Der erste ist, daß der »Aufbau Ost« als »Nachbau West« konzipiert und umgesetzt wurde. Das verlängert sich bis in die gesamtdeutschen »Reformen« von heute; sie zielen nicht auf die Suche nach Neuem, sondern auf die Erhaltung des Alten durch »Abspecken« und Umverteilung der Lasten.
Der zweite Punkt ist die Eingliederung des aus der DDR kommenden Wirtschaftssystems in das westdeutsche. Dessen Ergebnis war bekanntlich die weitreichende Deindustrialisierung des Landes. Wirtschaftsförderung beschränkte sich auf die passive Unterstützung von marktlich organisierten Prozessen und auf wenige Prestigeobjekte. Die neoliberale Behauptung, der Staat könne nur alles falsch machen, wenn er aktive Industriepolitik betreibt, bewirkte, daß ein aktiver Aufbau zukunftsträchtiger Industrien nicht stattfand, weil er nicht in der Logik des neoliberalen Denkens und Handelns lag.
Die Deindustrialisierung hat, dies der dritte Punkt, in kürzester Zeit eine »überflüssige« Bevölkerung erzeugt, die mehr als ein Drittel der erwerbsfähigen Einwohner umfaßt. Diese Größenordnung wurde Anfang der neunziger Jahre geschaffen, hat sich seither nie wieder verringert und seit 2000 sogar weiter erhöht. Zu den durch Betriebsschließungen Entlassenen kommen alljährlich tausende junge Erwachsene hinzu, die in Schleifen zwischen Arbeitslosigkeit, »Maßnahmen« und ebenso perspektivlosen Umschulungen hin- und hergeschoben werden. Lebensperspektive und soziale Integration entstehen so nicht; Auswandern oder Abwandern bleibt als einzige Alternative.
Die Abwanderung, verbunden mit nachhaltigem Geburtenrückgang und Ausgrenzung haben demographische und ökonomische Schrumpfungsprozesse in Gang gesetzt, die zu einer sich weiter verstärkenden Umverteilung von Chancen und Risiken zu Lasten schwacher Regionen führen. Unter den gegebenen Bedingungen einer stagnierenden Gesamtentwicklung und intensivierter sozialer Ausgrenzung werden Abwärtsspiralen und regionale Ungleichheiten weiter ausgeprägt.
Der Bericht macht zwei Vorschläge für alternative Entwicklungspfade. Der eine besagt, die verstärkte Ausbeutung regenerativer Energien könnte angesichts knapper und rasch teurer werdender Öl- und Gaslieferungen einen neuen wirtschaftlichen und sozioökonomischen Entwicklungspfad eröffnen helfen. Der andere Vorschlag zielt auf einen Umbau der »Arbeitsgesellschaft«, auf die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Erwerbsarbeit und disponibler Zeit. »Eine neue Form der Erwerbsarbeit muß auf modernen und erweiterten Menschenrechten aufbauen und Formen ihrer praktischen Verwirklichung finden«, heißt es zusammenfassend in dem Bericht. »Jeder hat das Recht auf einen fairen Anteil an der Erwerbsarbeit und an der disponiblen Zeit. Jeder hat das Recht auf einen fairen Anteil an Erwerbseinkommen und das Recht auf eine Nutzung des gesellschaftlichen Reichtums, um disponible Zeit sinnvoll verwenden zu können.« Das wäre in der Tat etwas Neues. Und es wäre das Gegenteil dessen, was der Neoliberalismus derzeit mit wachsendem Druck zu erzwingen trachtet.
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