von Jörn Schütrumpf
Vor einem Jahr schwadronierte Harald Schmidt über ein Unterschichtenfernsehen, nun hat die Friedrich-Ebert-Stiftung die dazugehörigen Unterschichtenmenschen entdeckt. Es ist dieselbe Stiftung, die unter der Regentschaft Oskar Lafontaines, wenn auch hinter dessen Rücken, einst Schröders und Münteferings Konzept für einen Krieg gegen die eigene frühere Klientel ausarbeitete und nun unter dem Abweinen von Krokodilstränen die Folgen des eigenen Tuns – ohne es freilich zu benennen, denn die Kirche muß im Dorf bleiben – kritisiert: Brandstifter als Biedermann.
Medien und Politik sind wie auf ein Kommando auf den Zug aufgestiegen. Im Moment fühlt man sich an das in der DDR zelebrierte Leninjahr 1969/70 erinnert. Damals wagte man sich am Ende kaum noch einen Toilettendeckel zu heben – aus Angst, auch dort von Wladimir Iljitschs Karikatur angegrinst zu werden. Nun sind es die Unterschichten, die Lenins Platz eingenommen haben. Und jeder weiß: In vier Wochen gibt es die nächste Sau, die durchs Dorf getrieben werden wird, und keiner wird mehr von ihnen reden: den durch Berufskriminelle in Regierung und Parlament immer tiefer ins Unglück Getretenen.
Die Aufregung ist mindestens so verlogen wie das Karlsruher Urteil zu Berlins Finanzen. Die Literatur – ob Buch, ob Zeitschrift, ob Zeitung – über die »Transformation« der sozialstaatlichen Bonner in die asozialstaatliche Berliner Republik füllt Regale. Doch die Prostituierten und Prostituiertinnen in den Mainstreammedien – nicht selten leseschwache Drittsemestler – haben sie fünf Jahre lang vorauseilend gehorsam ignoriert. Die (in diesem Blatt zugegeben nicht immer mit unverbrüchlicher Zärtlichkeit behandelte) Linkspartei hielt als einzige Parlamentspartei die Fahne hoch und applaudierte bei der Agenda 2010, dem Sozialskandal, nicht einmal heimlich, sondern setzte eine Agenda sozial dagegen.
Doch geschieht im Augenblick weit mehr als nur die alltägliche Prostitution der »vierten Gewalt« gegenüber der ersten und zweiten – gegenüber Parlament und Regierung. Es wird auf ein Modell zurückgegriffen, das, urwüchsig und alles andere als gewollt, einst in der SED entstand: die Auto-Opposition. Die Herrschaft der SED – Bürgerrechthaber, gemeint sind die der letzten Stunde, jetzt bitte sich einmal zum Biertresen drehen – wäre noch wesentlich unangenehmer ausgefallen, wenn sich nicht immer wieder gutmeinende »Spinner« gefunden hätten, die in ihrem Umfeld als Indiz dafür galten, daß das mit der SED doch ein gutes Ende nehmen könnte. Na, hören Sie mal, wenn da solche Leute drin sind!
Wo damals auf Grund des Kräfteverhältnisses von oben nicht zugeschlagen werden durfte – dafür um so mehr für den Tag der Abrechung die Zellen vorgekühlt wurden –, regiert heute der staatsmännische Blick (gewiß, noch nicht in der Linkspartei – doch da sind wir nicht ohne Vertrauen in die Zukunft): Die Grünen nahmen nach der Bundestagswahl von 2002 das urwüchsige SED-Modell auf und verfeinerten es gekonnt. Christian Ströbele, in der Position des SED-Spinners und oben verhaßt (dort hieß der Honecker Joschka), wurde urplötzlich ins Regierungssystem eingebaut: als die Opposition der Regierungspartei zu sich selbst. Manch Wähler fand das nicht ohne Charme und kreuzte entsprechend.
Franz Müntefering, der – anders als Gerhard Schröder – alsbald die Genialität dieses Schrittes begriff, inaugurierte die Heuschrecke und »kapitulierte« vor Andrea Nahles, während Schröder aus Angst vor der eigenen Linken und vor der Ersetzung Angela Merkels durch Christian Wulff (ein niedersächsischer Macho kann nicht gegen ein uckermärkisches Weib, wohl aber gegen einen niedersächsischen Schwiegersohn verlieren) ohne Not Neuwahlen ausrief. Bei denen kamen Franz Müntefering der Fraktionsvorsitz und – zum Trost – auch Gerhard Schröder abhanden.
Auch der Alt-Ober-SPD-Linke und Ex-Bundesgeschäftsführer Otmar Schreiner darf nun wieder auf die Sender. Für Andrea Nahles und ihn hat sich in der stets wandlungsfähigen SPD endlich wieder eine Funktion gefunden: als wählerbetörende Opposition von Münteferings Gnaden.
Für alle, die auch noch in vier Wochen am Thema »Unterschichten« interessiert sein sollten: Dieter Klein: Milliardäre – Kassenleere. Rätselhafter Verbleib des anschwellenden Reichtums, Karl Dietz Verlag Berlin 2006, 230 Seiten, 14,90 Euro. Die zweite, überarbeitete Auflage ist soeben erschienen.
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