von Jörn Schütrumpf
Die Eliten gehen mit dem Land um, als hätten sie noch eins. Zum Mehltau – seit Jahren die Gesellschaft erstickend – gesellt sich nun der Modergeruch der Verantwortungslosigkeit. Die Luft schmeckt nach Weimar.
Das Handeln der Nachkriegspolitiker war vom Trauma Nationalsozialismus geprägt. Tief eingebrannt hatte sich ihnen das Versagen der politischen Eliten in allen Lagern der ersten Republik; manche – wie Konrad Adenauer, Mitglied des Preußischen Staatsrats, und Walter Ulbricht, Mitglied des Reichstags – hatten schon damals zu ihnen gehört.
Allen wichtigen Nachkriegspolitikern gemeinsam war die Überzeugung, daß sie und Ihresgleichen den Aufstieg der Kleinganoven und Großverbrecher ermöglicht hatten – und erst dann eine relative Mehrheit der Deutschen in Hitler den Messias zu sehen begonnen hatte. Die Angst vor dem von ihnen nazireif gemachten »Volk« ließ sie nie wieder los. Ob Walter Ulbricht, ob Konrad Adenauer – beide machten Politik, nicht weil sie die Deutschen liebten; sie machten Politik, weil sie sie fürchteten. Und diese Furcht wuchs nach 1945 noch; sie prägte ihre Sozialpolitik: bei Konrad Adenauer nach den Stuttgarter Unruhen vom 12. November 1948, bei Walter Ulbricht nach dem 17. Juni 1953.
Ihre Erfahrung war: Radikalisieren sich die Deutschen nach links, kommt nicht viel mehr als die verstotterten Revolutionen von 1848 und 1918 heraus, radikalisieren sie sich aber nach rechts, brennt zuerst das Buch – und morgen die ganze Welt.
Die DDR bekannte sich stets zum Antifaschismus; manchmal ein wenig zu laut, um völlig glaubhaft zu sein; manchmal auch etwas mehr als nur ein wenig unehrlich: Man denke an die durch den Ost-Emigranten und SED-Chef Ulbricht erzwungene Auflösung der Konkurrenz-Organisation Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) im Februar 1953 und daran, daß der antifaschistische Staat DDR bis 1971 ein Land ohne eine Organisation für antifaschistische Widerstandskämpfer war. (Lediglich ein von Ulbricht handverlesenes »Komitee« mit 48 Personen für die Repräsentanz im Ausland wurde in dieser Zeit geduldet.) Trotzdem gab es bis 1989 am antifaschistische Charakter der DDR nie seriösen Zweifel.
In Parenthese: Hier jetzt sich über die seit 1989 herumstochernden »Entlarver« zu ereifern, hieße, sich tiefer zu bücken als schicklich. Besonders bei den ökonomischen Eliten, die ihre Kollaboration mit den Verbrechern im Osten und in der Mitte Deutschlands mit der Totalenteignung bezahlt hatten, kam nie Zweifel am antifaschistischen Wollen der Enteigner auf. Entsprechend rabiat fiel nach 1989 die Rache aus, auch an denen im eigenen Lager, die nicht parierten; Stichwort: Rohwedder. (»Auf einer USA-Reise zu Investoren stießen seine sozial verträglichen Privatisierungspläne auf einiges Unverständnis« – heißt es bei Wikipedia.)
In der BRD galt bei den herrschenden Eliten jegliches Bekenntnis zum Antifaschismus zwar als verpönt, zugleich aber wurde bis 1989 immerhin so viel unternommen, daß faschistische und nationalsozialistische Bewegungen es nie über Kurzaufenthalte in Länderparlamenten hinaus brachten. Die Brandt-Scheelsche Sozialpolitik (1969–1974) zum Beispiel entsprang – zumindest auf seiten der FDP – nicht einer sozialen Gewissenserschütterung, sondern muß als Reaktion auf die 4,9 Prozent Wählerstimmen für die NPD bei der Bundestagswahl 1969 gelesen werden.
Der Übergang von Helmut Kohl zu Gerhard Schröder markierte das Ende dieses merkwürdig nonverbalen Antifaschismus der alten Bundesrepublik. Heute ist die Politik wieder »unpolitisch«. Es geht fast nur noch um die Selbstsucht und um die Bereicherungsgier der gewählten Vertreter des Volkes. Nach nicht einmal einem Jahr treibt die große Koalition auf dem Niveau der Politik in der späten Weimarer Republik. Heinrich Brüning heißt heute Merkel, Pofalla, Heil, Müntefering, Beck, Kauder, Struck. Platzecks Flucht wirkt unterdessen fast sympathisch.
Allerdings gibt es einen großen Unterschied zu Weimar: Brüning & Co. begingen ihre Untaten ohne das Wissen um den Nationalsozialismus; die heutigen Untaten werden bei vollem Bewußtsein verübt.
PS. Es wäre übrigens ungerecht, das Anti-Antifa-Urteil von Stuttgart in diese beschriebene Diskontinuität zu stellen. Denn dieses Urteil bezeugt eine Kontinuität: die der westdeutschen Anti-Antifa-Justiz, die nach 1945 nie systematisch von der nationalsozialistischen Durchseuchung befreit wurde.
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