von Thomas Heubner
Zunächst hatte es Mandy Meier noch lobenswert gefunden, daß ihr Mann nicht wie unzählige andere jeden Abend in eine Kneipe zum Public Viewing rannte, zum Fußballgucken im Kampfkollektiv. Denn eigentlich paßte Dieter mental auf jede Fanmeile. Aber er zog es vor, zu Hause vor dem neuen Plasmadingsbums zu hocken. Natürlich gemeinsam mit Fred und Schorsch, seinen beiden Busenfreunden, die sich täglich schamlos auf Mandys Couch lümmelten und schwarz-rot-güldene Winkelemente schwenkten.
Anfangs schmierte Mandy noch Wurst- und Käseschnittchen für die brüllenden Männer, hübsch mit winzigen Gürkchen und anmutigen Mayonnaiseklecksen verziert – die Schnittchen, nicht die Kerle. Sinnlos. Sie blieb vom gruppendynamischen Prozeß der Männer und von Dieters Aufmerksamkeit ausgeschlossen. Sogar seine Libidofrequenz hatte dramatisch nachgelassen, quasi disproportional zum Bierverbrauch. Was war profaner Sex schon gegen ein Tackling! Mandy hätte getrost für anderthalb Monate eine Kur im Ayurveda-Heim auf Sylt buchen können, Dieter hätte es nicht bemerkt, ihr später höchstens unterlassene Sorgfaltspflicht vorgeworfen.
Es war schon erstaunlich, was Fußball aus erwachsenen Menschen machen konnte. Sie ließen ihren Gefühlen und dem Harndrang freien Lauf, wenn Klose Salti schlug; benahmen sich wie hemmungslose groopies von Tokio-Hotel, wenn Ballack über den Ball stolperte, und waren völlig ratlos, als Sportsfreund Klinsmann feststellte: Die Wade ist noch nicht da, wo sie hin muß. Mandy wußte zwar auch nicht, wo das formschöne Stück abgeblieben war, hatte aber wie Ex-Nationalspieler Andy Möller vom Feeling her ein ungutes Gefühl.
Dieter und seine Kumpels klopften nämlich Sprüche, die auf keine Kuhhaut gingen. Wie ein Sitzenbleiber aus der Neuköllner Rütli-Schule radebrechten sie und äfften bedenkenlos ihre Vorbilder nach. Etwa Stefan Effenberg, der mal gemeint hatte: Die Situation ist aussichtslos, aber nicht kritisch, oder Gerald Asamoah, der zugegeben hatte: Da krieg’ ich so den Ball und das ist ja immer mein Problem … Schorsch behauptete sogar, der WM-Slogan Die Welt zu Gast bei Freunden stamme ursprüngliche aus der Verseschmiede der Abteilung Agitprop des FDJ-Zentralrats. Und wie zum Beleg ergänzte Fred Die junge Welt ist in Berlin zu Gast, während Dieter sportliche Spitzenleistungen forderte: Jeder jeden Tag mit guter Bilanz! Nun gab es kein Halten mehr in Meiers Wohnzimmer. Von der Oder bis zum Rhein – Deutschland wird Weltmeister sein!, grölten die drei Männer im Sprechchor. Und als wieder ein Tor fiel: Des Deutschen WM-Siegeslauf hält weder Ochs noch Esel auf!
Mandy trippelte kopfschüttelnd ins Schlafzimmer. Sie erinnerte sich an ein Buch in dunkelblauem Einband, das vor vielen Jahren Pflichtlektüre war. Darin steht, daß alles, was einen Menschen bewegt, durch seinen Kopf hindurch muß. Damit waren nicht nur Essen und Trinken gemeint. Also, schlußfolgerte Mandy, müsse bei manchen anstelle des Kopfes eine hohle Lederkugel sitzen. Nun lächelte sie wieder, wußte sie sich doch eins mit dem Kapitän der Nationalelf: Keiner verliert ungern!
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