Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 7. August 2006, Heft 16

Schleef und Sangerhausen

von Kai Agthe

Ich habe vor ihm keine Achtung«, sagt Frau B. aus der Katharinenstraße in Sangerhausen und meint Einar Schleef (1944-2001). Diesen Satz wird sie in den nächsten Minuten ihres Monologs – der, seltsam genug, an die Prosa Schleefs erinnert – mehrfach wiederholen. Vor Frau B. trat deren Sohn in die Tür, um in Erfahrung zu bringen, ob wir das verfallene Haus gegenüber kaufen wollten. Wir wollten nicht. Die Ruine in der Katharinenstraße Nr. 3 ist für den Besucher, der Einar Schleefs Spuren folgt, nur ein Punkt in der Sangerhäuser Biographie des Theatermannes und Dichters: Es ist das Haus der Großeltern mütterlicherseits, nicht mehr. Ein anderer Fixpunkt ist die Mogkstraße Nr. 24, wo Schleef aufwuchs. Sieht man von den neuen Fenstern und der Tür ab, präsentiert sich das Gebäude noch wie zu der Zeit, als Einar Schleef hier eine wenig beneidenswerte Kindheit und Jugend verbrachte: kalt und abweisend.
Den Besuch der Stadt Sangerhausen, die Schleef in Liebe haßte, zu beginnen, ist das Spengler-Museum unweit des Bahnhofs der richtige Ort. In dem Gebäude, das ohne den Sammlerfleiß des Tischlermeisters Gustav Adolf Spengler heute kaum existieren würde, bildet das von dem Hobby-Archäologen ausgegrabene Skelett eines Mammuts – dem der Besucher den »Ice Age«-Namen »Manfred« anträgt – den Höhepunkt des Rundgangs. Wer aber wegen Schleef kommt, der läßt sich nur ungern von Fossilien und Dioramen aufhalten.
In der ersten Etage ist ein abgewinkelter und in den Farben Schwarz, Rot und Grau gehaltener Raum dem Multitalent gewidmet. Eingerichtet wurde er auf Initiative des rührigen Einar-Schleef-Arbeitskreises Sangerhausen e.V. Die Orientierung auf den Regisseur ist aber leider zu einseitig, die Textblöcke so überbordend, daß selbst bei größtem Interesse die Aufmerksamkeit bald erlahmt. Also läßt man durch die Aufsicht eine DVD in das Abspielgerät einlegen: Heiner Sylvesters Dokumentation Nie mehr zurück – Einar Schleef in Sangerhausen. Das Filmporträt wurde 1993 aufgenommen. Wir sehen den verlorenen Sohn, der im Begriff ist, den Haushalt seiner verstorbenen Mutter Gertrud aufzulösen. Dazwischen folgt die Kamera dem Künstler durch die Altstadt, in der er ihm wichtige Orte aufsucht. Dieser Film lebt von einer zurückhaltenden Regie und zeigt uns einen unprätentiösen Schleef, der, an einen Kachelofen gelehnt, im Elternhaus so stark stottert wie an keinem anderen Ort.
Als wir eine Dame auf dem Friedhof Sangerhausen mit dem Anruf »Entschuldigen Sie …« aufhalten, entgegnet diese sogleich: »So, wie sie aussehen, suchen sie das Grab von Einar Schleef.« Bis heute ist mir nicht klar, ob das als Lob oder Tadel zu verstehen war. Schleefs Grab, es ist auch das der Eltern, liegt versteckt und ist ohne ortskundige Hilfe kaum zu finden: Eine von zwei Marmorblöcken eingefaßte anthrazitfarbene Metallplatte, auf der ein Zitat aus Novalis’ Heinrich von Ofterdingen über das Weggehen aus der und das Wiederkommen in die Thüringer Heimat zu lesen ist (Schleef wählte es als Motto für seinen Roman Gertrud), erinnert an die heute mit Abstand berühmteste Persönlichkeit der Berg- und Rosenstadt. Schlichtes Grün bedeckt die Stätte, vor dem sich unsere Blumen ungebührlich ausnehmen.
Frau B. aus der Sangerhäuser Katharinenstraße betonte am Ende ihres Monologs nochmals: »Ich habe keine Achtung vor Einar Schleef.« Der Dichter habe sich – angeblich – über Frau B. und ihren Vater im Roman Gertrud abwertend geäußert. Ob sie dieses oder andere Bücher von Schleef gelesen hat? Darüber möchte man mit Frau B. nicht ernsthaft diskutieren. Auch nicht über den Unterschied zwischen Fiktion und Non-Fiktion. Fakt ist, ihr Name erscheint nicht im Verzeichnis von Gertrud. Hört man Frau B. reden, ahnt man jedoch sofort, daß Einar Schleef bei der breiten Bevölkerung in Sangerhausen wohl das gleiche Ansehen genießt wie Nietzsche in Naumburg: keines. Einar Schleef, der Außenseiter des deutschen Theaters, geht als Paria durch seine Stadt. Auch am fünften Todestag Schleefs, an den hier zu erinnern war.