Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 7. August 2006, Heft 16

Natürlicher Irrsinn

von Max Hagebök

Durch die offene Terrassentür weht ein kühler Luftzug. Nach den Temperaturen des Tages gnadenvoll für meinen überhitzten Körper. Regungslos sitze ich im Ledersessel und genieße diesen Moment. Dann fluten die Hitzewellen erneut in den Raum. Mein anfänglicher Widerstand bricht schnell zusammen. Ich bin das Opfer. Glaub’ ich.
Auf dem Bildschirm in meinem Asyl bewegen sich die Menschen zu den Nachrichten aus der Welt. Auch dort sehe ich die Opfer der Natur. Einmal diesen Gedanken schwerfällig bemüht, führe ich meine rechte Hand zu der Flasche alkoholfreien Bieres. Auf ex geht es den Weg aller Flüssigkeiten und belohnt mich mit einem Schweißausbruch. Meine Großmutter hatte mir tausendmal erklärt, daß ich, wenn ich durstig bin, nur kleine Schlucke nehmen solle. Wegen des Kreislaufs und anderer doller Dinge meines Körpers. Vergebliche Liebesmühe.
Jedenfalls schleicht sich dieser Gedanke durch all die schon gelebten Zeiten. Hätte mich die Hitze nicht unterdessen gelähmt, würden sich verdammt viele Blödsinnigkeiten meines Lebenslaufes vordrängeln und nach ihrem Sinn fragen. Die einzige Ausrede bestände dann darin, daß wir aus den Fehlern lernen. Doch sicher bin ich mir bei mir nicht.
Das Phänomen des Menschen besteht letztlich darin, daß Wissen und Verhalten über viele Schnittstellen vermittelt werden und deshalb selten zueinander finden. Wie die Königskinder leben sie jeder für sich und selten gemeinsam. Anders ist diese Welt nicht zu erklären.
Die großen Fatalisten sehen in den abfolgenden Fehlern die lustige Anarchie von Versuch und Irrtum. Dieser Weltenlauf führe zu einer höheren Form des Zusammenlebens. Eine wahrhaftige Unbedenklichkeitserklärung für jeden amateurhaften Lenker menschlicher Geschicke. Damit liefern sie eine Steilvorlage für all die Politiker und anderen Weltzerstörer, deren Handeln auf dem konsequenten Verzicht an Wissen basiert. Des Menschen Henker ist der Mensch.
Dieser Gedanke drängt sich mir auf, als ich fernbedienend das Fernsehbild wechseln lasse. Ein erneuter leichter Windhauch belohnt diesen kulturellen Akt. Die Tagesthemen bedienen mich mit den Aktienkursen. Ein nicht schwitzendes Wesen beglückt mich mit tief schürfenden Wahrheiten über die mobilen Kurse und fiktiven Materialien, wie es das Geld nun einmal sei. Deren Bewegung wird durch Menschenhand initiiert. Wenn irgendwo ein Krieg tobt, irgendwo eine Naturkatastrophe uns das Fürchten zurückbringt oder jemand viel Geld scheffeln will, dann zeigt das die Börse liebevoll an. Und damit wir dies auch wirklich sehen können, stehen die Erklärer vor einer Fieberkurve.
Welch wunderbares Selbstverständnis. Eine geometrische Linie, die mehr über den Bazillus unseres Lebens aussagt, als die tonnenschweren Bücher über das Leben und dessen Sinn.
Jede Risikobetrachtung dieser Welt von außen oder durch die Vogonen kann nur zu einem eineindeutigen Ergebnis kommen: Die Welt ist krank, und ihr Virus ist der Mensch.
Langsam schäle ich mich aus dem Leder meines Sessels. Meine Füße tragen mich zur Whiskyflasche, und langsam rinnen fünfzehn Jahre Bewegungslosigkeit in mein Glas. Auf der Terrasse setze ich mich in den Gartenstuhl und stelle die Lehne nach hinten. Über mir die Sterne und an mir die Mücken. Ganz tief draußen sitzen die Vogonen in ihren Schiffen und beschließen, diesen Planeten nicht zu bevölkern. Nachdem sie in ihren Bibliotheken die Bücher über die Erde gewälzt haben, wissen sie, daß es sich nicht lohnt, die Menschen zu kontaktieren.
Meine Frau weckt mich. Nach ihrem gelobten Vierzehn-Stunden-Arbeitstag ist sie nach Hause gekommen. Wir gehen schlafen.