Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 21. August 2006, Heft 17

Der Erwählte

von Erhard Crome

Der Imperator hat schon mal einen »Koordinator für die Transition auf Kuba« einsetzen lassen. Der Coup soll am Tage nach Fidel Castros Tod in Gang gesetzt werden. Wie immer die Kubaner in ihrer Mehrheit zu Castro stehen, sie sollen keine Möglichkeit haben, über ihr künftiges Schicksal selbst zu bestimmen. Das Imperium hat schon alles vorbereitet: Es will seine politische und wirtschaftliche Herrschaftsposition von vor 1959 wiederherstellen.
Fidel Castro sieht das anders. Er hat zu diesem Thema auf einer »Festveranstaltung anläßlich des 60. Jahrestages seiner Aufnahme an die Universität« am 17. November 2005 in Havanna eine ausführliche Rede gehalten. Man könnte natürlich über den Gehalt an symbolischer Politik und das Autoritative räsonieren, die in solcher Datierung stecken. Das soll uns hier aber nicht weiter beschäftigen. Wer hat nicht schon alles eine Rede zu einem eigenen runden Geburtstag gehalten! Auch ist die Rede als solche einfach und schlicht übersetzt, für westliche, auch linke Leser etwas »nicht-rational«. Wer sich allerdings mit lateinamerikanischer Redekultur schon früher näher befaßt hat, Fidel-Begeisterter seit 1959 ist oder Chavez-Reden liebt, der findet nichts Ungewöhnliches. Es ist eine etwas langatmige, zuweilen abschweifende, eher spiralförmig aufgebaute rhetorische Arbeit. Als vormaliger Jesuitenschüler hätte er es besser wissen müssen; aber er macht das ja schon immer so.
Wichtiger ist der Inhalt dieser Castro-Rede. Er stellt die Frage, ob der revolutionäre, sozialistische Prozeß in Kuba umkehrbar ist. Oder, was getan werden müßte, dies zu verhindern. Sein Fazit ist, »die Revolution« sei nicht von außen, von Seiten der USA zu zerstören, das könne sie nur selber tun, »nur durch ihre eigenen Fehler«. Mit Blick auf die Sowjetunion sagt er, sie hätte in Ordnung gebracht und nicht zerstört werden sollen, und mit einem Seitenhieb auf China, man könne »den Sozialismus« nicht mit kapitalistischen Methoden aufbauen.
Wer aber ist »der Sozialismus«? Castro zieht sich darauf zurück, »daß unter den vielen Fehlern, die wir alle gemacht haben, der bedeutendste Fehler war zu glauben, daß irgendjemand etwas vom Sozialismus verstand oder daß jemand wußte, wie der Sozialismus aufgebaut wird«. Wo er recht hat, hat er recht, nur in bezug auf seine Frage über die Zukunft Kubas ist er damit keinen Schritt weiter. Schließlich kommt er auf etwas gleichsam Urchristliches: Ohne ethische Werte keine revolutionären Werte. Am Ende soll die revolutionäre Erziehung es richten. Da das Eigentum des Volkes überall gestohlen wird, aber alles dem Volk gehöre, müsse dem Einhalt geboten werden, die Reichtümer egoistisch und unverantwortlich zu verschwenden. Die kubanische Gesellschaft der Zukunft solle »eine vollkommen neue Gesellschaft sein«.
Felipe Pérez Roque, früherer Privatsekretär Fidel Castros und seit 1999 Außenminister Kubas, hielt am 23. Dezember 2005 in der Nationalversammlung eine Rede, in der er im Schlußteil explizit auf die Castro-Rede vom November Bezug nahm. Kuba sei militärisch »unverletzbar geworden« in dem Sinne, daß die USA für die Besetzung der Insel Opfer bringen müßten, die die US-Bevölkerung nicht tragen würde. Es ginge jetzt darum, »wirtschaftlich unverletzbar zu sein«. Entscheidend werde aber sein, »eine politische und ideologische Unverletzbarbeit« zu erreichen. Nach Fidel müsse das Volk »diese Lücke… füllen«. Es seien drei Maßnahmen nötig, die Revolution zu retten: Die Revolutionsführer müßten »mit eigenem Beispiel« der Bescheidenheit und Lauterkeit vorangehen; die Unterstützung des Volkes müsse »auf der Basis von Ideen und Überzeugungen« beruhen, »nicht auf der Basis materiellen Konsums«; es dürfe keine neue Bourgeoisie in Kuba geben, denn die würde immer auf seiten der Yankees stehen, nicht auf der der kubanischen Nation.
Heinz Dieterich, der bereits als der Beschreiber des Sozialismus des 21. Jahrhunderts von sich hatte reden machen lassen (siehe Das Blättchen, 6/2006), hat nun diese beiden Reden ins Deutsche gebracht und veröffentlicht. Nicht ohne zu versäumen, die Dramatik der Fragestellung hervorzuheben. Wer das verschwiemelte Geschwafel Gorbatschows bis Anfang der 1990er Jahre über die »historische Entscheidung für den Sozialismus« oder ähnliche Auslassungen Honeckers noch nicht ganz vergessen hat, vermag die historische Größe Castros, allein diese Frage gestellt zu haben, nachzuvollziehen. Dieterich nennt es eine »transzendentale Rede«. Meint er das theologisch, die Rede sei »übersinnlich«, oder philosophisch, sei sie also apriorisch für das Sein – der Revolution oder dieses Buches?
Der Titel suggeriert, es hätten drei Autoren an diesem Buch gearbeitet: Castro, Pérez Roque und Dieterich. Bei genauerem Hinsehen jedoch zeigt sich: Dieterich hat die beiden Reden genommen, ihre Rolle dramatisiert, und anschließend die Übersetzungen mit seinen Kommentaren versehen. In etlichen Punkten widerspiegeln seine Positionen den Stand auch der relevanten linken Diskussionen: Ohne Demokratie wird es keinen weiteren Sozialismus geben; der Realkapitalismus des 20. Jahrhunderts hatte eine größere »kognitive Kybernetik« als Lenins Einheitspartei; letztere und der bolschewistische Staat haben sich am Ende »von Protagonisten der Transformation im Dienste der Avantgarde zu Inkubatoren der Konterrevolution« entwickelt. Die Frage, was die selbsternannte Avantgarde überhaupt soll, stellt er allerdings nicht, weshalb auch seine Demokratie-Position eigenartig unscharf bleibt.
Dieterich spricht vielen sicher auch aus dem Herzen, wenn er in bezug auf das angekündigte Ableben Castros schreibt, es sei vorzuziehen, »sich mit Spartakus und Che Guevara zu irren, als mit Rom und Bush recht zu haben«.
Des Pudels Kern jedoch ist die Mitteilung, Kubas Revolution werde nicht überleben, wenn sie nicht »den Schritt zur Konstruktion des Sozialismus des 21. Jahrhunderts geht«. Es bleibt der schale Beigeschmack, Dieterich habe die Castro-Frage nur wiedergegeben, um sich selbst als die Antwort zu präsentieren. Im Originalton: Es sei »natürlich nicht hilfreich, an der erkenntnistheoretischen Fiktion festzuhalten, daß auch heute niemand weiß, wie der Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu konstruieren ist«. Nein! Natürlich nicht! Heinz Dieterich weiß das alles! Kauft nur sein Buch über den Sozialismus des 21. Jahrhunderts!
So sind Castro und Pérez Roque die PR-Figuren für Dieterichs kybernetische Weltrevolution, das zweite Buch die PR-Maßnahme für das erste. Das sieht man schon am Waschzettel des Verlages: Die Präsentation von Dieterich ist mehr als doppelt so groß, wie die von den anderen beiden. Ehre, wem Ehre gebührt!
Bei Thomas Mann war Der Erwählte einer aus der mittelalterlichen Mythologie, der nach den Sünden von Gott selbst zum Papst bestimmt wurde. Hier haben wir es mit einem Selbst-Erwählten zu tun. In der Werksausgabe des Aufbau-Verlages von 1975 findet sich der Roman in einem Band mit den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull.

Fidel Castro, Felipe Pérez Roque, Heinz Dieterich: Kuba – nach Fidel. Kann die Revolution überleben? Kai Homilius Verlag Berlin, 2006, 178 Seiten, 9,90 Euro