Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 21. August 2006, Heft 17

Czernowitz

von Klaus Hammer

So etwas wie schmerzvolle Wehmut stellt sich ein, wenn man in diesem materialreichen Band blättert. Die Geschichte der so aufregenden Stadt am Pruth, im Herzen der Bukowina, begann erst 1775 mit der Angliederung der Bukowina an das Habsburgische Österreich. Die österreichischen Behörden siedelten gezielt Zuwanderer, vor allem deutschsprachige Kolonisten aus Schwaben, Böhmen und Nordungarn an. Juden wanderten vor allem aus Rußland ein, ihnen wurden nach und nach alle Bürgerrechte gewährt. 1849 wurde die Bukowina ein eigenständiges Kronland mit Czernowitz als Hauptstadt. Bald darauf tagte ein eigener Landtag, und 1875 wurde hier mit drei Fakultäten die östlichste deutschsprachige Universität eröffnet. Um die Jahrhundertwende hatte Czernowitz nahezu 66 000 Einwohner, es war eine prosperierende Stadt mit einem vorzüglichen Bildungssystem, einem funktionierenden Gesundheitswesen und ersten sozialen Einrichtungen. Es wurde Deutsch, Jiddisch, Ruthenisch (Ukrainisch), Polnisch und Rumänisch gesprochen; doch die Koexistenz mehrerer Sprachen war geprägt durch die Dominanz der deutschen Sprache.
Nach dem Ersten Weltkrieg eignete sich das Königreich Rumänien die Bukowina an. Rumänisch wurde als einzige öffentliche Sprache zugelassen. Die rigorose Rumänisierungspolitik hatte tiefgehende Folgen auf die Bevölkerungsstruktur. Als 1940 sowjetische Truppen die nördliche Bukowina und Czernowitz besetzten, wurde die deutsche Bevölkerung evakuiert, Tausende, vor allem Juden, wurden nach Sibirien verschleppt. Als 1941 rumänische Truppen wieder in Czernowitz einrückten, betrieben deutsche Sondereinheiten die systematische Verfolgung und Ausrottung der jüdischen Bevölkerung. Tausende Juden wurden ermordet, das alte Judenviertel der Stadt zum Ghetto erklärt, 34000 Juden nach Transnistrien deportiert.
Nach dem Krieg wurde die nördliche Bukowina mit Czernowitz der Sowjetrepublik zugeschlagen, die polnischen Bevölkerungsteile nach Polen ausgesiedelt, die ukrainischen in andere Teile der Sowjetunion verbracht. Zurück blieb eine weitgehend entvölkerte Stadt, die sich erst wieder mit Bewohnern aus allen Teilen der Sowjetunion füllen mußte. Das sowjetische Tschernowzy blieb allerdings eine weitgehend abgeschlossene Stadt, in der militärische Einrichtungen dominierten. Mit dem Zerfall der Sowjetunion entstand 1991 die Republik Ukraine selbständig. Die Kirchen wurden den Religionsgemeinschaften zurückgegeben, die jüdische Gemeinde begann wieder zu wachsen; aber die Wirtschaft kämpfte durch den Fortfall des Marktes Sowjetunion ums Überleben. Erst jetzt begann man sich im ukrainischen Tscherniwzy wieder auf die nationale Identität und Multikulturalität zu besinnen
Es verschlägt einem den Atem, wenn man sich die wechselvolle Geschichte dieser Stadt vor Augen führt, wie sie die Münchner Historikerin Mariana Hausleitner in Czernowitz niedergeschrieben hat. Aber was hebt Czernowitz aus anderen Provinzstädten heraus, was gibt ihr eine solch einmalige Bedeutung? Der vorliegende Band macht es in Text und Bild deutlich: Czernowitz war eine multikulturelle, polyethnische Stadt mit einem halben Dutzend Völkerschaften, eine einzigartige Kulturmetropole des Ostens mit einem intensiven geistigen Leben. Nirgendwo waren so viele Sprachen und Religionen zusammengetroffen wie in der »Gegend, in der Menschen und Bücher lebten« (Paul Celan). Wird das einstige Klein-Wien des Ostens wieder eine Zukunft haben? Die jüngsten Zeichen deuten darauf hin. Ermutigend ist die seit einem Jahrzehnt betriebene Aufarbeitung der Geschichte der Bukowina, der Stadt Czernowitz und Transnistriens im 20. Jahrhundert. Denn vieles ist noch wiederzuentdecken, manche offene Frage harrt der Antwort. »Dies wäre die Voraussetzung dafür«, schreibt Mariana Hausleitner in ihrem Beitrag, »dass die Menschen aus Czernowitz und ihre untergegangene Kultur den ihnen zustehenden festen Platz in unserer ›Erinnerungskultur‹ erhalten«. Der vorliegende Band ist ein gewichtiger Beitrag dazu. Er lädt zum Betrachten, zum Erinnern ebenso wie zum Reflektieren und zum Weiterdenken ein.

Helmut Braun (Hg.): Czernowitz. Die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole. Chr. Links Verlag Berlin 2006, 184 Seiten, 29,90 Euro