Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 24. Juli 2006, Heft 15

Rückspiel

von Jörn Schütrumpf

Im Leben geht es ungerecht zu. Vor der Entlassung ins Sommerloch wurde die Regierung Merkel coram publico abgewatscht. Sie brächte zu wenig zustande; bei der Reformierung des Sozialstaates zum Obrigkeitskeitsstaat gehe sie mit viel zu kleinen Schritten, überhaupt zu lasch vor. (Nicht einmal Panzer hat sie vor die Fußballstadien zu stellen vermocht.)
Bei all dieser Kritik wird mindestens eines übersehen: Die nun langsam im milden Licht der Erinnerung verschwindende Regierung Schröder benötigte vier Jahre Bedenkzeit, zuzüglich viel Armani, einem zurückgezogenen Gesetz über die doppelte Staatsbürgerschaft sowie Bomben auf die Brücke von Prisˇtina, ehe sie den Mumm aufbrachte, der in Deutschland ausufernden Zivilisation den Krieg zu erklären. Die Regierung Merkel ermannte sich dazu binnen vier Wochen. Selbst ist die Frau.
Wer nicht völlig ideologisch verblendet ist, muß zugeben, daß sich die Bilanz sehen lassen kann: Die Unternehmenssteuern fallen unter dreißig Prozent; die Umsatzsteuer steigt um drei auf neunzehn Prozent; die gesetzlichen Krankenkassen haben ihre Beiträge zu erhöhen, die bei den privaten Krankenkassen versicherten Besserverdienenden, Bundestagsabgeordnete inklusive, werden geschont; wer die Pendlerpauschale künftig in Anspruch nehmen will, möchte zuvor richtig etwas für die Mineralölwirtschaft getan haben; der Staatsterrorismus gegen Hartz-IV-Empfänger wird effektiviert, und die Renten sind eingefroren. Was will man denn mehr nach diesen wenigen Monaten? Warum nur müssen Frauen immer mehr leisten als Männer, um anerkannt zu werden?
Sicher, gegen den Abbau der Arbeitslosigkeit helfen all die Neuerungen nicht; aber wer – außer der Regierung und der ihr angeschlossenen Medien – verfiele auch dem Irrtum, solcherlei zu behaupten?
Nicht minder irrt übrigens, wer da meint, es wäre billiger, die Rentner, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger sowie Linke und Ausländer gleich mit dazu abzuschieben; er hat nichts verstanden. Zwar mag das Leben der einen aus der Sicht der Staatskassenverwaltung ebenso lebensunwert erscheinen wie aus der Sicht der politischen Polizei das der anderen. Die Ahnen beider waren schließlich bewährte Nationalsozialisten, da liegt die Tradition so in der Familie. Aber verwertungsunwert sind diese Leben deshalb noch lange nicht. Hier läßt sich noch viel gestalten.
Auch wenn die Musik längst anderswo spielt. Dort, wo sich noch ganz ohne Arbeiterbewegung richtig Geld verdienen läßt: In China, da unterdrückt die kommunistische Bürokratie im Namen der Arbeiterbewegung und neuerdings sogar – eine Chuzpe sondersgleichen – im Namen Rosa Luxemburgs, die sich mit ihrer Kritik an der russischen Revolution zur Klassikerin des chinesischen »Sozialismus« prostituiert sieht, jede Bewegung der Arbeiterschaft. In Indonesien, da waren die Kommunisten nicht bürokratisch, sondern nur maoistisch – das Blut der 1965 zu hunderttausend hingeopferten Arbeiter erstickt bis heute jeden ernsthaften Widerstand. In Indien, wo in einigen Bundesstaaten kommunistisch geführte Regierungen unterdessen nicht weniger kommunistisch agieren als Gerhard Schröder in seiner zweiten Kanzlerschaft.
Der Neoliberalismus funktioniert natürlich auch ohne Kommunisten: in der Westtürkei, in Nordmexiko, in Polen – wenngleich die dort bis vor wenigen Monaten regierenden Sozialdemokraten auch nur umgelernte Kommunisten vom chinesischen Schlage waren; wenigstens das ist uns in Deutschland erspart geblieben, zumindest in der Provinz. Mit den Jahren wird man bescheiden; die ganz Feigen nennen das Weisheit.
Ein Ziel der frühen Arbeiterbewegung, die Abschaffung der Mehrwertproduktion, wird in Deutschland – mit jeder Verlagerung von mehrwertschaffenden Arbeitsplätzen ins widerstandsarme und armutsbillige Ausland – Tag für Tag mehr Wirklichkeit, und das ganz ohne Revolution. Die Strategie der SPD ist aufgegangen, 1918 nicht weniger als heute.
Es ist ein neuer Kapitalismus im Entstehen: ein Kapitalismus der Ausplünderung ganzer Bevölkerungen. Als es noch so schien, als werde sich in Europa die weltweite Fortexistenz der Mehrwertproduktion entscheiden, wurde der Philosophie gefrönt: Lieber teilen, eh es nichts mehr zu teilen gibt. Die Staatsquote war hochgedrückt, und ein erheblicher Teil des Mehrwerts wurde in die »Infrastruktur« umgeleitet: in das Verkehrswesen und damit in die Beweglichkeit der Mehrwertproduzierenden, in die Aufrechterhaltung ihrer Gesundheit, in ihre Altersvorsorge und Altersversorgung, in die Förderung ihrer Mietwohnungen und Eigenheime (Das eigene Haus – das sicherste Bollwerk gegen den Kommunismus), in die Energie- und Wasserzufuhr, in Müll- und Abwasserentsorgung, in die Pflege ihrer Siechen und in die Aufzucht ihres Nachwuchses (wenngleich bei letzterem meist mehr geschwätzt als gezahlt wurde).
Nun läuft das Rückspiel. Dort, wo die Nutzung der »Infrastruktur« kostenlos war, wird sie nicht nur kostenpflichtig, sondern gleich auch teuer; wo sie wohlfeil war, wird sie Luxus. Alles wird privatisiert. (In einer deutschen Mischpartei tobt im Moment ein Machtkampf – dabei wird auf einem der Fechtböden die Frage ausgetragen, ob man »allgemein« oder »konkret« gegen Privatisierungen sein soll.)
Unabhängig vom Platz innerhalb oder außerhalb der Produktion wird jeder ausgelutscht; den einen tut es noch nicht so weh, den anderen hingegen schon sehr. Bei diesem Coup auf die Einbeziehung von Rentnern, Arbeitslosen, Hartz-IV-Empfänger und ähnlichen Existenzen zu verzichten, wäre – zumindest solange sie überhaupt noch alimentiert werden – betriebswirtschaftlich geradezu verantwortungslos.
Die Regierung Merkel ist bisher dieser Verantwortung gerecht geworden. (Nein, bitte jetzt keine Zwischenrufe: natürlich mit Hilfe der SPD, mit wem denn sonst von der Linken? Noch ist dies eine polemische Frage.) Das Kapital räumt aus Europa die Industrie heraus, die wirklich Reichen sind eh schon weg; aber noch sind Deutschland und Europas Westen wohlhabend, ja, sie zählen zu den wohlhabendsten Gegenden dieser Welt. Bevor sich das nicht geändert hat und sie auf das Niveau der Mark Brandenburg am Ende des Dreißigjährigen Krieges gebracht worden sind, werden »vor den Herausforderungen, die vor uns allen liegen« – diesen Ton verschreibt der Bundespräsident jedem CDU-Neumitglied – sich auch Infrastrukturparasiten nicht drücken und diese Gegend sich selbst überlassen. Denn hier läßt sich noch vieles herausholen.
En passent ist das natürlich zugleich die beste Medizin gegen die Nazis – ein rein ostdeutsches Phänomen. (Schon der Führer sammelte seine Mannen in der Uckermark und nicht etwa in Franken.) Es wird nicht mehr allzulang dauern, dann werden die Hungerleider aus dem Süden wieder wegziehen; arm sein können die Deutschen dann wieder ganz unter sich – und das natürlich so gut wie keiner dieser Kanaken.
Die Regierung Merkel macht bei alldem bisher einen ausgezeichneten Job. Selbst George W. Bush hat das erkannt. Der Paranoid küßt die Pfarrerstochter unterdessen nicht weniger gierig als einst der aus der Südukraine zugewanderte Moskowiter den nach Ostberlin abgewanderten Neunkirchener.