Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 26. Juni 2006, Heft 13

Rotkäppchen ist tot

von André Hagel

Ich weiß gar nicht, wie viele Jahre das Ding inzwischen auf dem Buckel hat. Sicher bin ich mir nur in einem: Es muß schon so lange bei uns zu Hause im Regal gestanden haben, wie ich selbst auf der Welt bin. So gesehen, war es also schon immer da.
Ob Rotkäppchen, Rumpelstilzchen, Der goldene Vogel – bis zum Umfallen hat meine Mutter sie mir vorlesen müssen, immer wieder, und als ich schließlich selbst lesen konnte, holte ich mir eigenhändig das Buch aus dem Wohnzimmerregal, las es von vorn bis hinten, von hinten bis vorn. Meine Jugend mag nicht so glücklich gewesen sein, wie ich mir das im nachhinein manchmal wünsche. Meine Kindheit aber war märchenhaft.
Warum ich das alles schreibe? Eigentlich nur, um jetzt einen Satz anzufügen, der weniger sentimental gemeint ist, als er sich anhört: Die Zeiten märchenhafter Kindheit sind vorbei. Damit meine ich nicht nur die Tatsache, daß ich inzwischen so alt bin wie meine Eltern zu jener Zeit, als ich Knirps die Welt der Märchen für mich entdeckte. Damit meine ich vor allem die Kinder, die heute in das zweifelhafte Vergnügen kommen, eine märchenfreie, märchenlose Kindheit zu durchleben.
Zeitsprung: Es war ein wenig freundlicher, grauer Tag im November 1999. Mich hatte es nach Hamburg verschlagen. Mein Seniorfreund Konrad Halver, selbst viele Jahre lang und überaus erfolgreich Produzent von Märchenhörspielen, hatte mir mit Hans Paetsch, dem deutschen Märchenerzähler par excellence, anläßlich dessen 90. Geburtstag ein Interview verschaffen können. Hunderte Male hat Paetsch mit seiner unverkennbaren Brokatstimme die Märchen Hauffs, Andersens und der Grimms zu neuem Leben erweckt, auf Schallplatte, auf Kassette, auf CD, zuletzt auf Video, und damit ganze Generationen von Kindern mit den Geschichten um den Falschen Prinzen, den Geist im Glas und viele andere märchenhafte Gestalten in Berührung gebracht.
Da saßen wir nun in Paetschs Arbeitszimmer. Gegen Ende unseres Gespräches ließ er einen Satz fallen, der mir später immer wieder zu denken geben sollte: »Das Fernsehen gestaltet den Märchensektor so wenig überzeugend, daß die Leute durch ihre eigene Phantasie beispielsweise ein Hörspiel sehr viel mehr genießen können.«
Paetsch hatte recht. Ein Blick auf das, was Kindern heute vor die Nase gesetzt wird, beweist es. Märchen finden zwar noch statt; aber ihr Stellenwert in freier Fernseh-Wildbahn ist lächerlich gering, sowohl in Quantität als auch Qualität. Die öffentlich-rechtlichen Sender haben im Schielen auf die gefürchtete Quote vor einiger Zeit Märchen in ein Korsett gezwängt, das als SimsalaGrimm antrat, Kinderaugen und -herzen zu verzaubern. Hat man eine Folge dieser Reihe absolviert, wünscht man den Verantwortlichen das Durchqueren von Frau Holles Tor, auf daß zähes, klebriges Pech auf sie niederregnen möge.
Durchdisneysiert erscheinen die klassischen Märchen, in ihrer Machart amerikanisiert, verkitscht bis Oberkante Unterlippe. Eigentlich geht es gar nicht mehr um die Geschichten an sich, die natürlich ohne fremde Hilfe weder aus- noch bei den Kleinen ankommen: Da braucht es schon »die zwei lustigen Helden Yoyo und Doc Croc« (O-Ton NDR), zwei Zeichentrickfiguren, die die Zeichentrickhandlung von SimsalaGrimm unablässig kommentieren – und stillschweigend die eigentliche Hauptrolle übernehmen. Märchen als Staffage für neue Comic-Helden – von den Ergüssen, mit denen die Privaten in Sachen Märchen ihre junge Klientel zumüllen, kann man da getrost schweigen. Kinder schlucken das. Sie kennen es ja nicht anders, sind vielleicht sogar empört, wenn sich im echten König Drosselbart Doc Croc & Co. nicht blicken lassen.
Alternativlose Hohlheiten? Wo die medialen Märchenwelten zu geistigen Seichtwasserbassins verkommen, müßte die Gegenbewegung eigentlich von Erwachsenen, die guten Willens sind, in die Kinderzimmer getragen werden. Lange schien es, Harry Potter könnte ein hoffnungsvoller Auftakt sein. Plötzlich wanderten Eltern und ihre Kinder Seite an Seite in die Zauberwelt jenseits der Muggel-Demarkationslinie. Sie taten es immer wieder. Sie tun es noch heute. Mit jedem neuen Harry-Potter-Band. Aber die so oft beschworene Harrymania kreist nur um sich selbst. Der Juniorzauberer gibt seinen jungen Fans keinen Hinweis darauf, daß es nicht nur in Hogwarts märchenhafte Dinge zu entdecken gilt.
Dabei bieten unsere Märchen einen wertvollen Schatz: Daß ein Zuviel des Guten einem im wahrsten Sinne des Wortes die Luft abschneiden kann – vielleicht nirgendwo wird diese Tatsache so eindringlich geschildert wie in dem Märchen Der süße Brei, in dem die Speise nicht zu quillen aufhört und sich über Häuser und Menschen legt. Daß Selbstverliebtheit anderen nur allzu schnell zum Schaden gereicht – die böse Königin aus Schneewittchen ist hierfür ein Beispiel, wie man es sich nicht anschaulicher wünschen könnte. Selbst wenn hemmungslose Ich-Bezogenheit in der Realität häufig weniger kriminell vonstatten geht als hinter den sieben Bergen. Und auch der König in Dornröschen stellt eindrucksvoll unter Beweis, daß staatliche Autorität manchmal mit Übereifer falsche Wege beschreitet (Stichwort: Spindelverbot statt Aufklärung über die Gefahr der Spindeln) – nur um damit bravourös zu scheitern.
Das Schöne daran: Diese Erfahrungen bieten nicht nur die deutschen Volks- und Hausmärchen. Die Bremer Stadtmusikanten etwa kennt man auch in Italien. Sie sind auf dem Stiefel ebenso zu Hause wie bei uns. Und von Peter Ensikat, der sich in der wenig märchenhaften DDR nicht nur als Kabarett-, sondern auch als Kindertheaterautor einen guten Namen machte, habe ich lernen können, daß das Märchen Vom Hasen und dem Igel in Äthiopien ebenso ein Klassiker ist wie in Deutschland. Nur sind eben nicht überall die Klassiker so tot wie bei uns.

Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Grimms Märchen, Edition Axel Menges, 29,90 Euro