Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 26. Juni 2006, Heft 13

In Rußlands Mitte

von Wladislaw Hedeler

George Kennan hätte es sich auf seiner Reise nach Sibirien 1885 selbstverständlich nicht entgehen lassen, am Mittelpunkt Rußlands zu verweilen, wäre seine Reiseroute nicht der Sibirischen Poststraße über Tomsk nach Irkutsk gefolgt. Sie verlief südlich der Siedlung Nowo Nikolajewsk, die Jahre nach Kennans Reise vom Bau der Transsibirischen Eisenbahn profitierte. Heute ist die expandierende Stadt am Ob, die sich auf ein Stadtjubiläum vorbereitet, einen Besuch wert.
Die Rede ist von Nowosibirsk, fünf Flugstunden von Hannover entfernt. Entscheidet man sich für die Bahn, wird jedoch aus jeder Stunde ein Tag. Wie sehr Stadtentwicklung und Eisenbahn miteinander zusammenhingen, wird in Nowosibirsk nicht nur mit der einer Lokomotive nachempfundenen Bahnhofshalle architektonisch ins Bild gesetzt.
Doch die Geschichte dieser Stadt hält auch andere Daten parat, die Anlaß für Feierstunden und Gedenktage böten: 1897 erfolgte der Brükkenschlag über den Fluß Ob, 1903 erhielt Nowo-Nikolajewsk das Stadtrecht, 1926 erfolgte die Umbenennung in Nowosibirsk.
Einige Kirchen und Steinhäuser, die damals errichtet wurden, stehen heute noch. Die Holzhäuser im Zentrum sind – bis auf einige wenige – zwar verschwunden; aber wer die Zeit für einen Fußmarsch durch die Innenstadt am rechten Flußufer hat, wird sie noch in den Nebenstraßen finden. Unweit der Dampferanlegestelle am Flußbahnhof glänzen die Kuppeln der Alexander-Newski-Kathedrale, die im Jahre 1894 errichtet wurde. Vom anderen Ufer und der Brücke, die das Wohnviertel mit der Innenstadt verbindet, sind sie im täglichen Stau gut zu betrachten. Die Straße ins Zentrum – der Krasnyj Prospekt – führt sanft bergan. Unmittelbar hinter der Kathedrale wechseln sich sowjetische Baustile ab, ein Haus mit hundert Wohnungen wurde 1937 erbaut, das Gebäude des Sibirischen Revolutionskomitees 1926 und das des Gebietsexekutivkomitees 1933.
Wo die Revolutionäre ein- und ausgingen, ist heute eine sehenswerte Gemäldegalerie russischer Malerei untergebracht. Das Angebot reicht von Schischkin und Rerich über Juon bis Petrow-Wodkin. Die Eintrittskarten stammen noch aus Sowjetzeiten, die Verwaltung für Kultur des Nowosibirsker Gebietsexekutivkomitees ließ wohl genug davon drucken. Vierzig Kopeken kostete damals der Eintritt, heute hundert Rubel, das sind knapp drei Euro, der Gegenwert für einen Schaschlikspieß auf dem Markt.
Von hier aus ist es nicht mehr weit bis Rußlands Mitte. Eine wiederaufgebaute Kapelle mit Glockenturm markiert die Stelle. In den dreißiger Jahren stand hier ein Stalindenkmal. Es verschwand schneller als die Gulags, die um die Stadt herum gelegen waren. Tausende Häftlinge arbeiteten während des Krieges in den hierher verlegten Rüstungsbetrieben. Das Sibirische Landmaschinenkombinat, am Stadtrand, an der Zubringerstraße zum Flugplatz gelegen, gehörte auch dazu. Nach dem Krieg bauten auch Gefangene Akademgorodok mit auf. Im Gebäude, das einst die Lagerverwaltung beherbergte, residiert heute die Miliz.
Unter den Häftlingen waren Sowjetbürger und Emigranten, denen ihre tatsächlichen oder konstruierten »Verbindungen zu ausländischen Missionen« zur Last gelegt wurden. Im vorigen Jahr erschien die erste Ausgabe des Gedenkbuches an die Opfer dieser Kampagne. In den Texten wird unter anderem daran erinnert, daß im Herbst 1937, im Zenit des Großen Terrors, das Deutsche und das Japanische Konsulat ihre Pforten schließen mußten. Heute hat das Deutsche Konsulat unweit der Kapelle seinen Sitz. Die Japaner sind vor allem durch ihre Autos, die die großzügig angelegten Straßen zur Hauptverkehrszeit verstopfen, vertreten.
Die Magistralen werden nur in Ausnahmefällen für den Verkehr gesperrt. Als die Kirche während der Feiern aus Anlaß der slawischen Kulturtage eine Prozession vom Leninplatz zur Newski-Kathedrale veranstaltete, wurde klar, welcher Platz und Stellenwert ihr von der Stadtverwaltung als Bewahrerin russischer Tradition und Kultur eingeräumt wird. Es war ein prunkvoller Umzug mit Kirchenfahnen, Gesang, Gebeten und Ikonen. Priester, Kosaken, barmherzige Schwestern, Nonnen und ordensgeschmückte Veteranen in Uniform zogen den Prospekt hinab.
Anschließend eroberte sich das Hauptverkehrsmittel in der Millionenstadt, der Bus, die Straße wieder zurück. Er verkehrt auch zwischen den Städten. Wenn man Glück hat, erwischt man einen Kleinbus, schneller und wendiger als die gebrechlichen, altersschwachen Ikarus-Fahrzeuge, deren Fahrer in Anbetracht des Gegenverkehrs kaum eine Chance zum Überholen haben. Die Gefährte schlingern auf der Piste und lassen fast kein Schlagloch aus. Der Vergleich mit der von Kennan beschriebenen Unmöglichkeit, in dem von ihm gemieteten Tarantass – einer Reisekutsche – Schlaf zu finden, hinkt zwar, kam mir aber während der vierstündigen Rückfahrt nach Tomsk oft schmerzhaft in den Sinn. Entlang der Trasse gibt es wenig zu sehen, fast nur Birkenwald, erst hinter dem Schwarzen Fluß tauchen Nadelbäume auf. Die Gegend ist sumpfig, der Haltepunkt auf halber Strecke heißt deshalb Bolotnoe. Manchmal leuchtet es gelb oder blau zwischen den Pfuhlen rechts und links am Weg. Die richtige Gegend für Moosbeeren. In den Kurven erinnern Grabkreuze an jene, die es aus ihnen hinausgetragen hat.
Vom Busbahnhof in Tomsk ist es nicht weit bis ins Zentrum. Auch in dieser Stadt ist die Hauptstraße nach Lenin benannt, und das Denkmal steht ebenfalls noch. 2004 wurde Tomsk vierhundert Jahre alt. Wer sich eine Vorstellung von sibirischer Stadtentwicklung machen möchte, sollte sich die Stadt zwischen dem Lagergarten mit dem Denkmal für die im Vaterländischen Krieg gefallenen Tomsker im Süden und dem polnischen Friedhof jenseits des Auferstehungsberges im Norden erlaufen. Handelshäuser und Passagen, Hotels und Warenhäuser unterschiedlicher Baustile sowie die für ihre Verzierungen berühmten Holzhäuser prägen das Stadtbild. Hinzu kommen noch die Universitäten, Akademien, Fachschulen und administrativen Bauten aus Sowjetzeiten. In der Grünanlage neben dem ehemaligen Gefängnis des NKWD steht das Denkmal für die Opfer des Stalinismus. Zu den ältesten Bildungseinrichtungen gehört die 1888 eröffnete Universität, in deren Hauptgebäude zahlreiche Ausstellungen und Sammlungen zu besichtigen sind.
Junge Leute sind hier ebenso wie in Nowosibirsk stets anzutreffen. Ausländer sind in der Regel als Firmenvertreter vor Ort. Die Zeiten, in denen Tomsk zu den für Ausländer gesperrten Städten gehörte, sind vorbei. Präsident Putins Entscheidung, Frau Merkel hierher einzuladen, war mehr als nur eine nette Geste. Ich, für meinen Teil, hoffe sie verstanden zu haben und werde mich alsbald wieder auf die Reise begeben.