von Jens Knorr
Sie sitzen fest auf der Krim: eine Schlachterin, die mit ihrem Beruf hadert und ohnehin den richtigen Axtschlag noch üben muß, ihre Schlachtermeisterin, die in Schlachtabfällen manscht und zuweilen philosophiert, eine Griechin mit Englischkenntnissen auf der Suche nach ihrem Griechen, der Freund aller Freunde, zu nichts nütze als zum Selbstopfer, ein Lude und sein Polizist in sexuellem Notstand sowie zwei verfressene und versoffene Matrosen der Schwarzmeerflotte, die von ihrem Senf gerne ab- und mit Quetschkommode und Balalaika ihren musikalischen Senf gerne dazugeben. Und mittendrin ein furiengetriebenes, antriebsloses Vatermuttersöhnchen, das von einer Bluttat in die nächste gerät, ohne daß einer, am wenigsten es selbst, eigentlich wüßte, wie: Orest, ein Kastrat, was sonst?
Die anderen heißen Iphigenie, Artemis, Hermione, Pylades, Thoas und Philoktet. Die Krim hieß einstens Tauris, als sie noch nicht zur Rußland gehörte und zur Sowjetunion gleich gar nicht. Der Akkordeonspieler heißt Juri Tarasenók und der Balalaikaspieler Olaf Opitz, und beide sind
eigentlich nicht die Continuo-Besetzung, die Georg Friedrich Händel einstens vorgeschwebt haben mag, aber wer weiß denn sicher, wie ein Generalbaß auf Tauris oder auf der Krim sauber auszusetzen ist?
Alles Händel? Alles Händel! Denn werktreuer wird sich, so scheint’s, ein Regisseur zu einem Pasticcio, einer Pastete also, schwerlich verhalten können, als es Sebastian Baumgarten an der Komischen Oper Berlin unternimmt. Händel hat für seinen 1734 uraufgeführten Orest neun seiner zwischen 1720 und 1732 entstandenen Opern ausgeschlachtet, einen Mythos zerstückelt und flink neu zusammengesetzt, um im freien Wettbewerb auf dem Londoner Opernmarkt mithalten zu können. Doch so wenig sich das Verfahren Händels und seines Librettisten auf einen bürgerlichen Werkbegriff bringen läßt, wie er sich zum Ende des 18. Jahrhunderts durchgesetzt hat, so wenig läßt es sich mit postmodernen Verfahrensweisen, der Herstellung offener Kunstwerke gar, die eben den Werkbegriff voraussetzen, von dem sie sich abzusetzen suchen, parallel schalten.
Das Gegenteil scheint der Fall! Händel hat den Iphigenie-Mythos neu arrangiert und neues Personal eingeführt, um die szenischen und musikalischen Schemata der Opera Seria zu erfüllen. Die will Baumgarten überholen, indem er umstellt, wegläßt oder hinzufügt, seine Sänger abbrechen oder wiederholen läßt, aber die Schemata sind immer schon allhie. Die Regie glaubt sich von der Gattung emanzipiert, dabei vollstreckt sie bewußtlos deren Gesetze. Sie dünkt sich über den Mythos aufgeklärt, dabei streckt sie vor ihm die Waffen. Die konzeptionelle Schwäche der Inszenierung aber ist zugleich ihre szenische Stärke: Sie gibt einen ebenso redlichen wie mit ihrer Redlichkeit kokettierenden Abgesang auf die Generation Trainingsjacke der Neunziger, die sich in postmodernen Illusionen über den Gang der Geschichte erging und ein paar Weltordnungskriege später bewußtlos durch das globale Schreckenshaus der Betriebswirtschaft taumelt, unfähig aufzuwachen – Überbringer von Affekten als Wärter und Gefangene ihrer Gefühle zugleich.
Ein anderer als der Spaßgesellschafts-Händel, wie er zuletzt am Haus gepflegt wurde, treibt da mit uns seine Späße. Das Orchester der Komischen Oper sitzt auf der Bühne, davor agieren die Sänger, und alle sind auf Gedeih und Verderb gezwungen, sehr genau aufeinander zu hören, wollen sie miteinander musizieren und nicht lediglich den Blick auf die Musik verstellen. Keine der Figuren, die ihre Namen vor sich her tragen, weiß noch, welche Fäden ihr Schicksal mit dem der anderen verknüpft hatten und wer sie kappte und wie das geschah. Sie tragen Tücher in der Farbe der ukrainischen Demokratiebewegung oder, als feindliche Kombattanten erkannt, Häftlingsjacken in der Hausfarbe des Konzentrationslagers Guantánamo, beide Male Orange. Sie sitzen fest in künstlich hergestelltem Unraum, zwischen Tür, Containern, Schlafstelle, Stühlen und Tischen, die dem postfordistischen Blick aus Resopal, dem postsozialistischen aus Sprelacart gemacht erscheinen. Außerhalb muß es ebenso trostlos aussehen; ist einmal wer entkommen, so kommt er garantiert bald wieder.
Doch der innere als Spiegel eines sehr realen äußeren Ausnahmezustandes bleibt stumpf. Daß das Dargestellte von den Darstellern nicht selbst erfahren werden mußte, ist ihnen nicht vorzuwerfen. Daß sie diese Differenz aber wegzumogeln und sich selbst und dem Zuschauer zu suggerieren suchen, mit lässigem Ausstellen proletenhaften Gehabes sei dem Elend der Welt hinlänglich gedacht, gibt der Sache einen bitteren Beigeschmack. Die in der Behrenstraße trinken doch wieder nur ihr Gläschen aus, wenn hinten, weit, auf der Krim oder in den Banlieues, nicht ganz so weit, die Völkerreste aufeinanderschlagen.
Entkleidet man die Inszenierung allen bestenfalls illustrierenden, schlechtenfalls überflüssigen Beiwerks – Videoprojektionen, radegebrechter Zwischentexte und was der Mätzchen mehr sind – dann läuft ihr alle Weltgeschichte einzig auf Beziehungskisten hinaus, auf private Obsessionen sich selbst überflüssig gewordener Menschen, die zu ihrem eigenen Erstaunen Händelsche Arien singen, nein, aus denen Händelsche Arien singen, obwohl kein Status mehr herzustellen, kein Affekt mehr hervorzurufen, kein innerer Widerspruch mehr auszutragen ist.
Der Erzähler steht am Dirigentenpult, Thomas Hengelbrock, der sich ganz auf Händel stützen kann, auf den Unternehmer und auf den Komponisten. Wenn Akkordeon und Balalaika eine Runde aussetzen, dann übernehmen ganz hinten auf der Bühne Theorbe, Barockharfe, Orgel den Basso continuo. In Wahrheit ist der offene Bühnenraum von Robert und Ronald Lippok ein weltaltkluges Konzertzimmer.
Der Fernsehsender 3sat hat »Orest« aufgezeichnet und sendet den Mitschnitt am Samstag, 19. August 2006, um 20:15 Uhr.
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