Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 12. Juni 2006, Heft 12

An das Publikum

von Theobald Tiger

Hochverehrtes Publikum,
sag mal: bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor sitzt auf dem Popo
und spricht: »Das Publikum will es so!«
Jeder Filmfritze sagt: »Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!«
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
»Gute Bücher gehen eben nicht …«
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm –?
So dumm, daß in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte …
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm –?
Ja, dann …
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist du also nur ein Grießbrei-Fresser –?
Ja, dann …
Ja, dann verdienst dus nicht besser.


Aus: Die Weltbühne Nr. 27/1931