Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 15. Mai 2006, Heft 10

»Trotzkisten«

von Jörn Schütrumpf

Der Vorwurf, Trotzkist zu sein, abonnierte vor fünfzig Jahren die Beschuldigten auf mehrere Jahre Zuchthaus – in der DDR. Auch im Kalten-Kriegs-Kind Bundesrepublik zogen es zu dieser Zeit prominente trotzkistische Kommunisten vor, ihre wirklich trotzkistisch-kommunistischen Texte unter Pseudonym zu veröffentlichen. Sicher war sicher.
Schlechter erging es den KPD-Kommunisten, nicht zuletzt jenen, die schon bei den Nazis gelitten hatten; seit 1952 bevölkerten sie die Zuchthäuser – in der Bundesrepublik. Ab August 1956 – die Verkündung des KPD-Verbots fiel auf Brechts Todestag – waren sie auf Jahre hin dann die einzigen Orte in Westdeutschland, an denen sie geduldet wurden.
Ausgenommen waren nur jene, die zuvor die Haftanstalten im Osten hatten erleben müssen, zum Beispiel der stellvertretende KPD-Vorsitzende Kurt Müller (1950 bis 1955 in Hohenschönhausen und Wladimir, bis 1945 KZ Sachsenhausen) – eines der vielen Opfer des Verfolgungswahnes, den die Stalinisten in KPdSU und SED auch an der KPD auslebten.
Ralf Schröder, der spätere Bulgakowübersetzer und -herausgeber, war nach 1956 für acht Jahre ins DDR-Zuchthaus eingesperrt worden – als Trotzkist, obwohl er damals gar nicht wußte, was das ist. Er hatte im Herbst 1956 nur den Fehler gemacht, zusammen mit einigen Freunden zu denken: gemeinsam mit Charlotte Kossuth, mit seinem jüngst verstorbenen jüngeren Bruder Winfried, mit Erich Loest, mit Ronald Lötzsch  (Autor dieses Blattes) und einigen anderen. Alles sogenannte Trotzkisten.
Zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution 1987 holten wir Ralf Schröder zu Vorträgen in verschiedene SED-Parteiorganisationen der Akademie der Wissenschaften. Unterdessen war er wirklich Trotzkist geworden. Natürlich kam es zum Eklat, allerdings erst nach dem dritten Auftritt. Die Historiker zur deutschen Geschichte und die Historiker zur allgemeinen Geschichte hatten ihm erschrocken zugehört, doch erst an einem naturwissenschaftlichen Institut war er verzinkt worden. Diese Loyalität – ganz gleich gegenüber welchem Staat; Hauptsache, es ist der jeweils aktuelle – regiert heute dieses Land.
Alles Geschichte? Leider nicht. Da stellten sich doch auf dem Kongreß jener Partei, die gerade wieder ihren Namen geändert hat, zwei Redner hin und schimpften völlig pauschal über Trotzkisten. Zwei Redner, die von sich seit sechzehn Jahren öffentlich – zu Recht – behaupten, keine Stalinisten zu sein: die eine, stellvertretende Bundestagspräsidentin und ehedem stellvertretende Bundesvorsitzende ihrer Partei, der andere Fraktionsvorsitzender und maßgeblicher Begründer dieser Partei.
Trotzkismus ist eine Erfindung J. W. Stalins, um den intelligentesten und fundiertesten theoretischen Kopf der Bolschewiki, Leo Trotzki, auszuschalten. Als das nicht gelang, schickte er ihm ins mexikanische Exil einen Mörder hinterher, der ihm mit einem Eispickel das Gehirn zerhackte. In der Sowjetunion wurde der Terrorist später als Held geehrt.
Ansonsten ließ Stalin eine eigene Lehre nur noch der toten Rosa Luxemburg angedeihen, vor der er Angst hatte, obwohl sie längst von rechten Frauenschlächtern ermordet worden war. Nur so glaubte er, die Erinnerung an die Auffassungen der polnischen Jüdin – von der KPD-Führerin Ruth Fischer als Syphilis bezeichnet – ausmerzen zu können. Den Luxemburgismus als eigene »Lehre« zu kreieren, war übrigens eine Idee des Komintern-Chefs Sinowjew gewesen. Stalin hatte sie nur von ihm übernommen, während er ihren Schöpfer foltern und ermorden ließ. Leninisten unter sich; zumindest nach dem Tode Lenins.
Leo Trotzki (bis 1917 und ab 1923) und Rosa Luxemburg (ohne terroristische Zwischenphase) sind aus der marxistischen Tradition heraus per se Ahnen eines demokratischen Sozialismus, verstanden als Kritik am diktatorischen Sozialismus und als Kampf um eine gleichberechtigte Durchsetzung von politischen und sozialen Freiheiten.
Anders als die Anhänger Rosa Luxemburgs drehten die Anhänger Trotzkis den Vorwurf der angeblichen Abweichung von einem angeblichen Marxismus, nämlich vom stalinschen, um und erklärten sich zu dem, was man ihnen vorwarf: zu Trotzkisten. Zu wichtigen Denkern in der Tradition Trotzkis wurden der vor einigen Jahre verstorbene Ernest Mandel, der unterdessen greise, aber immer noch produktive Jakob Moneta, als Antistalinist mehrere Jahre im Vorstand der PDS, sowie Helmut Dahmer und Michael Löwy – um wenigstens sie zu nennen.
Allerdings haben viele der Sektenzirkel, die sich heute auf Leo Trotzki berufen, mit ihm so viel zu tun wie einst die Heilige Inquisition mit Jesus Christus. Viele verstecken sich zwar hinter Trotzki, entpuppen sich aber bei näherem Hinsehen eher als stalinistische Gruppen mit totalitären Tendenzen: Einer absoluten Wahrheit und der Überzeugung verpflichtet, daß der Zweck die Mittel heiligt, nach außen abgeschottet, nach innen oft streng hierarchisch organisiert, pflegen sie Verachtung und Verächtlichmachung Andersdenkender. Sollten manche dieser Leute aus einer Laune der Geschichte heraus je an die Macht gelangen, werden sie wohl über Pol Pot nur lächeln – ob der »vormodernen« Methoden, mit denen er sein Handwerk betrieb.
Falls man diese »Trotzkisten« meint, sollte man das klar sagen, aber nicht in überlieferter Manier pauschal auf Trotzkisten einschlagen. Wer wirklich mit dem Stalinismus gebrochen hat, müßte das eigentlich wissen.