von Jörn Schütrumpf
Morgenluft: In der Gedenkstätte für die Opfer der Zentralen Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen sprengten vor einem Monat Offiziere a. D. eine Veranstaltung. Zwei Wochen später trat in Dresden während der Vorstellung der Broschüre Die Vereinigung von KPD und SPD zur SED. Ein Zeitzeuge berichtet – ein Historiker bewertet durch Wolfgang Leonhard (edition eiderbogen bei NORA Berlin 2006) eine professoral organisierte Gruppe in Erscheinung und beschimpfte traditionsbewußt den 85jährigen, der die Stalinisierung der SED nicht hatte mitmachen wollen und deshalb 1949 nach Jugoslawien geflohen war, als Verräter et cetera. Trotzdem plädierte einige Tage danach der »Verräter« bei Maischberger für eine Beendigung der Stasihatz und eine differenzierte Beurteilung der Entstehung der SED; Niveau und Größe sind Qualitäten, die halt nur an wenige verteilt werden. In der Landesstiftung, die der Berliner Linkspartei.PDS nahesteht, erhob sich bei einer Veranstaltung über Workuta etwa zur selben Zeit ein NVA-Offizier und beleidigte gezielt anwesende GULag-Opfer; die Veranstaltung ging ungut zu Ende.
Erwiesene Antistalinisten und vielfach ausgewiesene Spitzenpolitiker, hervorgegangen aus dem Berliner Landesverband derselben Partei, redeten jüngst unreflektiert daher und bemerkten nicht mehr, wenn sie in stalinistischer Diktion peinliche Trotzkistenschelte und die unfreiwillige Aufwertung von Sekten betrieben (siehe Blättchen 10/2006).
Ein merkwürdiger Frühling in diesem Deutschland. Überall, nicht nur in den genannten Fällen, ist bei den einst bekennenden »Brechern mit dem Stalinismus« Zurückweichen zu beobachten. Lediglich der Organisator der Dresdner Veranstaltung hatte den Mut, während der Leonhard-Beschimpfung wenigstens denjenigen des Raumes zu verweisen, der demonstrativ in einem Stalin-T-Shirt erschienen war.
Und dann haben wir noch – fünfzig Jahre nach Chruschtschows ebenso Schweigen brechenden wie zwangsläufig inkonsequenten, weil für die Öffentlichkeit gesprochenen »Geheimrede« – die hilflosen Antistalinisten. Einer, sein Name mag hier unerwähnt bleiben, weil sein Träger mehr als sich selbst vor allem einen gängigen Typus repräsentiert, wußte sich am 13. Mai im Neuen Deutschland über DDR und »Stalinismus« zu äußern. Tucholsky hätte gesagt: Sie, det war jroßartig …
Anlaß war eine Erklärung der Historischen Kommission der Linkspartei. PDS – die es ist in der Tat noch immer gibt – zum Stalinismus. Diese Erklärung hatte es anders als die Antwort unseres zitierten Helden nur bis auf eine Website gebracht – deren Adresse vom Kritiker in der ihm eigenen Dezenz verschwiegen wird. Gelernt ist gelernt.
Was von unserem Helden über die Erklärung der Historiker zusammengeschustert wird, kann hier nicht wiedergegeben werden, weil so viel Wirrnis meinen Intellekt überfordert. Haften geblieben ist mir nur seine wegweisende Festlegung, »dass es trotz regen Gebrauchs nie eine klare Bestimmung dieses Begriffs gab«; der Mann meint allen Ernstes den Stalinismusbegriff. Doch wo die Not am größten, ist die Hilfe am nähesten: »Das hier errichtete Szenarium« – Goethe hat umsonst gelebt – »war historisch gesehen eine singuläre Erscheinung, verursacht (diese Hervorhebung ist von mir, J. S., er schreibt wirklich: verursacht) und geprägt von einem an Verfolgungswahn leidenden Diktator, der die gesamte Gesellschaft mit seinen paranoiden Aufwallungen terrorisierte.«
Der Stalinismus, von dem angeblich niemand genau weiß, was er war, ist ein errichtetes Szenarium, das durch ein psychisch krankes Menschenkind verursacht wurde.
Bitter, sehr bitter. Hätte der Paranoid nicht gelebt, könnten wir heute an Lenins Tischen schlemmen. Denn – so unser Gewährsmann – habe Lenin sicher das eine, vielleicht sogar das andere nicht ganz Demokratische im Namen der Revolution verfügt, doch: »Das bedeutete noch keine Gefahr, solange eine herausragende Persönlichkeit wie Lenin an der Spitze stand«. Der ganze Sozialismus-Stalinismus ein Zweipersonenstück, natürlich im Namen der Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Ein Stück wie aus der Augsburger Puppenkiste, mit dem lieben Kasperle auf der einen und dem bösen Krokodil auf der anderen Seite – das Ganze unter der Schirmherrschaft von Karl Marx, dem von Missionierern aller Couleur stets gern in die Prostitution Gezwungenen.
Als ich an der Karl-Marx-Universität in Leipzig bei Historikern lernen durfte, die es mit der Erforschung von Revolutionen ernstmeinten, Walter Markov und Manfred Kossok, wurden Revolutionen noch in Strukturen, Klassen- und Kräfteverhältnissen sowie Verläufen diskutiert – die feineren Differenzierungen mögen hier unerwähnt bleiben – und nicht infantil als Kasperlestücke. Dieses Niveau ist, wie uns immer dreister und unverschämter vorgeführt wird, heute überwunden. Selbst der in sich gebrochene Nikita Chruschtschow darf sich als bewältigt ansehen – durch Leute vom Schlage unseres Helden, von den eingangs erwähnten Heroen ganz zu schweigen.
Wer Revolutionen nicht als Kasperletheater verstehen mag, dem sei der Text »1956 oder: Die Reformfähigkeit des Stalinismus« im Juniheft von UTOPIE kreativ empfohlen. Ab Anfang Juni zu finden unter www.rosalux.de oder zu bestellen bei: UTOPIE kreativ, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, 6 Euro + Porto. Eine leicht gekürzte Version dieses Textes ist am 20. Mai 2006 unter dem Titel »Wasser fließt nicht bergauf« im »Neuen Deutschland« erschienen.
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