von Detlef Kannapin
Ein Kennzeichen unseres Zeitalters ist Ratlosigkeit. Kaum ein Tag vergeht, an dem uns aus Literatur, Film und Fernsehen nicht versichert wird, daß das, was ist, alternativlos sei. Manchmal wird man aber doch überrascht und ist erstaunt darüber, daß es doch noch vernünftiges politisches und ästhetisches Denken gibt. Welchen Grad der Barbarei hat eine Gesellschaft erreicht, die Engagement und Aufklärung nicht mehr für selbstverständlich hält?
Im Genre des Musiktheaters ist normalerweise der Furor der Politik nicht vorhanden. Anders in Neukölln. Die Nummer 86 der Neuesten Berliner Nachrichten schaltet am 2. Mai 2006 eine Todesanzeige des Vereins Aktien für Weißrußland, in der von dem tragischen Tod ihres Schriftführers Dr. h.c. Friedemann von Tilsit, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Automobilwerke AG (DAW) und zudem Honorarkonsul von Armenien, berichtet wird. Von Tilsit erliegt seinen Verletzungen nach einem angeblichen Terroranschlag, der dem kurz zuvor arbeitslos gewordenen Mechaniker der DAW, Herwig Müller, in die Schuhe geschoben wird. Müller gerät in die Fänge der Preß- und Medienreptilien, personifiziert in Sabrina van Dreesen, die mit ihren halbintimen und Politik vortäuschenden Menschenverachtungstalkshows zur führenden deutschen Fernsehkommentatorin aufgestiegen ist. Im Gegensatz zu Müller, dem jegliche Beziehung zur Politik fremd ist, möchte die Chefin der Rationalisierungs- und Personalabteilung der DAW, Heidlinde Waghausen, in einem guten Licht dastehen und inszeniert eine Kampagne zur positiven Vermittlung der Personalbegradigungen in ihrer Firma. Es folgen weitere Anschläge. Müller wird, obwohl er mit der ganzen Sache nichts zu tun hat, vom Proletariat in Gestalt von Arbeitern, Studenten und Hausfrauen zu ihrem Helden erkoren. Siebentausend Euro netto monatlich stehen einem dreiköpfigen gemeinsamen Haushaltskonto von zusammen eintausend Euro netto monatlich gegenüber. Wer wird gewinnen?
Dies könnte eine Eins-zu-eins-Realität sein. Ist es aber nicht, obwohl immerhin. Künstlerisch verdichtete Realität, da Dichtung von verdichten und nicht von erfinden kommt, ist auch Realität. Im richtijen Lehm werden sie siebentausend Euro gewinnen (falls die sich nicht irgendwann, und das kann bald sein, durch die unausweichliche Spekulationswut in Luft auflösen). Im richtigen Theaterleben wird van Dreesen wegen einer zu sensiblen Berichterstattung von ihrem Produzenten-Ehemann gefeuert, der sich danach die PR-Tussy angelt, um am Ende gemeinsam Pech zu haben. Auch sie werden weggebombt, während sich die proletarische Gemeinde der übermächtigen Polizei ergibt und nach Hause geht. Müller bleibt arbeitslos. Darüber wird Frau van Dreesen dann nicht mehr berichten.
Die Neuköllner Oper zeigt dieses Stück unter dem Titel Held Müller. Ein deutsches Musical, seit 1. Mai auf der Bühne. Nun sind Sujets wie Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Raubtierkapitalismus und geistige Insolvenz durch die drückenden Maßgaben der Zeit schon öfter zu sehen gewesen. Allerdings noch nicht mit jener Konsequenz und Meisterschaft wie hier.
Der Text ist von Peter Lund, den man als sozialistischen Stückeschreiber bezeichnen müßte, wenn er nicht diese Zuordnung ablehnen würde. Die Leichtigkeit der Musik von Thomas Zaufke, passend zu einem niveauvollen Musiktheaterstück, macht den Ernst der Lage nur noch quälender. Die routinierte Regie des Neuköllner Urgesteins Bernd Mottl zeigt auf, was gehen könnte, wenn noch mehr Inszenierungen auf den naturalistischen Schleim und Dreck verzichten würden, mit denen kritische Impulse durch Lärm und Chaos zur Pseudokritik verkommen.
Durchweg sind ganz ausgezeichnete schauspielerische Leistungen zu notieren: Doris Prilop als Sabrina van Dreesen, die der Figur kaum verhüllt den reduzierten Geist von Sabine Christiansen und Maybrit Illner sowie die jugendliche Naivität von Sarah Kuttner verleiht. Ebenfalls verstörend echt Franziska Becker als PR-Chefin, divenhaft, aalglatt und mit allem ausgestattet, was sie zu einer »bösen Frau« macht. Ulrich Wiggers spielt den Vorzeigeproletarier Kalle Kornowski und Uwe Dreves Friedemann von Tilsit, der kurz vor seinem Tod nach einem Anruf aus Boston eben mal kurz zweitausend Leute entlassen mußte, bevor er beim Golf auf dem achten Grün einlochte. Bleibt Müller. Eckhart Strehle, unter anderem Mitglied im Ensemble des Maxim-Gorki-Theaters, bringt mit seiner Interpretation des Haupthelden genau das zur Geltung, was dem Menschen heute vor Ohnmacht über die Freudlosigkeit unserer Epoche widerfährt. Er sagt im ganzen Stück nichts, weil ihm nichts einfällt. Er wird hin und her geschoben, weil er sich nicht mehr wehren kann. Und als er zum ersten Mal den Mund aufmacht, ist das Stück zu Ende.
An einer bestimmten Stelle im Konzentrationsprozeß des Kapitals wird es für die Funktion des Systems völlig unwichtig, wer welche Position einnimmt. Genau das ist heute der Fall. Die Verselbständigung der Ökonomie unter den Gesetzen der Akkumulation durch Enteignung läßt die Spieler, wie Ilja Ehrenburg einmal geschrieben hat, zur Karte werden. Man kann über solche Stücke nur froh sein, die sich darüber im klaren sind, daß der Klassenkampf nie aufgehört hat.
Held Müller. Ein deutsches Musical, von Thomas Zaufke (Musik) und Peter Lund (Text). 135 Minuten, eine Pause. Bis 4. Juni 2006 in der Neuköllner Oper. Karten: 9 bis 21 Euro.
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