von Walter Thomas Heyn
HipHop und Mozart an einem Abend – auf welche absurden Mischungen wird unser ach so weltoffen verkrähwinkeltes Städtchen denn noch so kommen? Haben wir nicht genug gelitten in diesem Haus, einstmals Weihetempel des modernen Musiktheaters unter Felsenstein? Sind uns nicht sex and crime, viel nackte Haut, Vergewaltiger, Frauenschänder und jede personifizierte Absonderlichkeit der menschlichen Psyche immerzu um die Augen und Ohren geschlagen worden? Und nun noch HipHop. Das sind doch diese dröhnenden Bässe, die vorzugsweise von jugendlichen Machos beim Autofahren gehört werden und die an den Kreuzungen überlaut durch die Scheiben der ungepflegten Schrottkarossen dringen? Das Internet sagt dazu: »Durch eine fehlerhafte Stadtplanung entstand das ›Ghetto‹, die Bronx/NY. An der Tagesordnung waren Bandenkriege und Gewalt. Es lebten in der Bronx überwiegend Menschen, die ethnischen Minderheiten angehörten, oder Menschen, die in verarmten Verhältnissen lebten. So war es den Jugendlichen dieser Menschengruppen nicht möglich, in die angesagten Clubs Downtown Manhattan zu gehen, da ihnen das Geld für den Eintritt fehlte. Die Lösung für ihr Problem war, daß sie ihre eigenen Partys veranstalteten. Sie suchten sich ein altes Fabrikgebäude, welches leer stand, holten sich den elektrischen Strom aus einer nah gelegenen Straßenlaterne und machten sogenannte Flyer (Handzettel) fertig und verteilten sie auf der Straße. HipHop löste die Gewalt der Bandenkriege ab. Konflikte wurden bei Anhängern der Szene nicht mehr mit Gewalt, sondern mit Kreativität gelöst.«
In der Komischen Oper entsteht manchmal für einen Augenblick oder eine kurze Szene etwas von diesem Geiste. Denn auch die Berliner Rapper und die Mitglieder der Youth Crew (des Tanzensembles) offenbaren viel natürliche Musikalität, Bühnenpräsenz und verfügen über erstaunliche rhythmische und gestische Fähigkeiten. Und die Zukunft haben sie sowieso für sich, ebenso wie die Schüler des Musikgymnasiums Carl Philipp Emanuel Bach, die die schwierige Mozart-Partitur erstaunlich locker und souverän meisterten. Und wenn die jungen Rapper (allesamt Männer) versuchen, ein wenig richtigen Mozart zu singen, und zwar richtig zu singen, oder auch die Tänzer, und sogar das Orchester singt, oder die jugendlichen Musiker die Geige schräg halten oder rhythmisch klatschen, dann beginnt der gute alte Brechtsche V-Effekt, die Verfremdung, ihre entzaubernde Wirkung zu entfalten. Dann sieht und hört man klar und beginnt zu verstehen und beginnt teilzuhaben. Wer also seinen Brecht kennt und in Gesten, Haltungen, in den Momenten des »Zeigens« gesellschaftspolitische Aussagen erkennen und für sich selber deuten kann, der kann diesen Abend überstehen.
Mozartliebhaber allerdings sollten zu Hause bleiben. Der Dirigent Chatschatur Kanajan nannte sie im Podiumsgespräch »Alte Säcke«, auf die er verzichten könne. Junge Mozartliebhaber wird es aber wenige geben, zu wenige jedenfalls, um so ein großes Operhaus regelmäßig zu füllen. Denn der »gemeine 16-jährige kann Mozart nicht von Mozzarella unterscheiden« (Christine Lemke-Matwey im Tagesspiegel).
Neukölln, früher ein bettelarmer Arbeiterbezirk, verfügte damals (!) über eines der modernsten Schulsysteme Berlins. Brecht hatte 1930 gemeinsam mit Weill den Jasager geschrieben, und zwar für die Schüler der Neuköllner Karl-Marx-Oberschule, 500 Meter von der Rütli-Schule entfernt. In dem Stück begeben sich ein Lehrer und drei Studenten auf eine Forschungsreise. Ein Junge schließt sich ihnen an, um Medizin für seine erkrankte Mutter zu holen. Die Reise ist jedoch zu anstrengend für den Knaben. Nun muß er entscheiden, ob seinetwegen alle umkehren oder ob er einem alten Brauch gemäß ins Tal geworfen wird. Der Schüler antwortet »dem Brauch gemäß« und wird geopfert. Die Einwände der Schüler nach der Uraufführung 1930 veranlaßten Brecht zu einer 2. Fassung, dem Neinsager, den sich Kurt Weill jedoch zu vertonen weigerte. Erst 1990 erfuhr das Stück seine musikalische Umsetzung durch Reiner Bredemeyer, der nach der Fertigstellung 1991 schrieb: »Wer a sagt, muß nicht b sagen. Er kann auch erkennen, daß a falsch war. Dieser von mir sehr oft bewunderte und zitierte Satz ist also Bestandteil der großen, schönen Schülerantwort in Brechts Schuloper Der Neinsager. Formale Strukturen gibt Brecht sehr deutlich vor. Ich bin ihm nur gefolgt. Sein japanisch kostümiertes ›episches Theater‹ hat dem demonstrativen Gesangsstil den Weg gezeigt, und Deutlichkeiten und Fragwürdigkeiten sollten exakt ersungen werden.«
Die Produktion der Dessauer Musikschule ist die zweite Realisierung der beiden Werke in der von Brecht gewünschten Zusammenstellung; aber zum ersten Mal wird die gesamte Produktion, von der Darstellung über die Musik bis hin zum Bühnenbild ausschließlich von Jugendlichen bestritten. Elf Solisten und über dreißig Chorsänger agieren unter der souveränen musikalischen Leitung von Friedemann Neef auf der Bühne und bewältigen die schwere Partitur in erstaunlicher Reife. War die Stuttgarter Uraufführung 1994 noch bedeutungsschwanger düster und apokalyptisch geraten, gelang es den Dessauer Schülern, frisches und unverbrauchtes Theater auf hohes künstlerisches Niveau zu zeigen.
Zwei Premieren – zwei Konzepte. Die Komische Oper Berlin und die Musikschule Dessau: David gegen Goliath. Und der Ausgang ist wieder mal derselbe. Man lernt nie. Aus.
Schlagwörter: Walter Thomas Heyn