Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 3. April 2006, Heft 7

Nahverkehr

von Uwe Stelbrink

Vor ein paar Tagen hatte ich einer sehr nahestehenden Person die unerfreuliche Aufgabe abgenommen, ein erhöhtes Beförderungsentgelt bei der BVG zu entrichten; allerdings nur den gnädigen Satz von 7 Euro, da man im Besitze einer Jahreskarte und nur vergeßlich war. Um die Gnade zu empfangen, verordnet die BVG ihren vergeßlichen Fahrgästen einen Besuch ihrer dafür eigens eingerichteten und betriebenen Zentrale in der Grunewaldstraße 1. Und damit sich’s auch der Schusseligste merkt, sind die Öffnungszeiten so gelegt, daß ein berufstätiger Mensch – so etwa gibt es ja noch – einen halben Tag Urlaub nehmen muß, um der lästigen Pflicht (was heißt Pflicht, er könnte ja auch einfach 40 Euro überweisen, zusammengerechnet gegen einen halben Tag Urlaub doch eigentlich kulant) genüge zu tun. Und eine Woche Zeit setzt ihm das Verkehrsunternehmen, um via persönlichem Erscheinen nachzuweisen, daß er nicht zu den vermuteten Übeltätern, die der Schwarzfahrerei überführt sind, zu gehören. Nun, da sich’s einrichten ließ, übernahm ich den unschönen Job.
Das schöne alte Gebäude, auf dem die Flagge der BVG siegesgewiß weht, läßt zunächst nichts Böses ahnen. Im Vorhof standen gut zwei Dutzend Leute, die so aussahen, wie ich mir Schwarzfahrer immer vorgestellt hatte – irgendwie sieht man diesen Hang zur Kleinkriminalität den Delinquenten an; die Kontrolleure müßten eigentlich nicht nach den Fahrscheinen fragen, es reichte eigentlich ein Aussortieren der Fahrgäste nach Aussehen – in Deutschland haben wir doch Erfahrung damit.
Nachdem sich mein erster Schreck ob falscher Zeitplanung gelegt hatte, entdeckte ich, daß es sich um keine Warteschlange, sondern eher um einen losen Haufen mit Wartemarken bestückter Menschen handelte, die sich nur zum Zwecke der rauchenden Selbstvergiftung oder des Handybetriebs (was ist auf Dauer ungesünder?) in den Hof zurückgezogen hatten.
Zwei Blauuniformierte einer Wachschutzfirma, deren Namen ich hier lieber verschweige, versperrten mir mit halbem Ausfallschritt den Zugang, gleich mittelalterlichen Hellebardenträgern vor dem Zimmer des Herrschers, wir kennen das zuverlässig aus allerlei historischen Filmen. In entsprechend geharnischtem Tone wurde ich befragt: Sie haben einen Zahlungsbescheid für ein erhöhtes Beförderungsentgelt? Ich bejahte. Dann geben Sie mir ihn bitte. Bitte, immerhin. Der Harnischträger griff sich den Bescheid und schaute ein kleines Weilchen darauf. Daß er ihn las, will ich ihm nicht unterstellen – nicht vermuteter Leseunfähigkeit, nein, nur, was nützt die Inaugenscheinnahme ohne einen Abgleich der Personendaten des vermutlichen Delinquenten? Oder prüfte er per Fingerfühlungsaufnahme, ob Bescheid echt sei? Nur: Wer wird sich mit gefälschter Beschuldigung freiwillig und ohne Anlaß an diesen point of return without money begeben? Günter Wallraff? Mich beschlich der Verdacht, daß in Übernahme bestimmter Prozeduren bei Grenzübergangskontrollen unseligen Angedenkens das Betrachten und scheinbare Lesen des Papieres dazu dienen sollte, den Hellebardeuren Zeit zu geben, mich unbemerkt für mich anderweitig zu visitieren.
Soweit ausgerüstet, fand ich nach einem Blick auf die Anzeigetafel, die mir nach einem Abgleich mit der Nummer des zugeteilten Warteanspruches 27 Vorgänger vermeldete, einen Sitzplatz. Und hatte nun Zeit, mir die dem Ideenreichtum der BVG zuzurechnenden Räumlichkeiten näher anzusehen. Ein Halbrund von Schaltern wölbte sich in den Warte- und Behandlungsraum, ähnlich der früher üblichen Aufreihung von Fahrkartenschaltern in Bahnhöfen und ähnlich schlecht besetzt. Darinnen saßen eigentlich harmlos aussehende Menschen, deren Bestimmung es offensichtlich war, mit Hilfe von Computertechnik den Akt der Einziehung des erhöhten Beförderungsgeldes zu vollziehen. Die Kabinen erinnerten ein wenig an Besucherkabinen in amerikanischem Gefängnissen, man kennt das ja zuverlässig aus allerlei Hollywoodfilmen, nur sitzt dort in enger Kabine und hinter einer Glasscheibe der Einsitzende.
Vor den mit BVG-Personal besetzten Kabinen nun stand jeweils ein Delinquent, der dort Gelegenheit zu einem Letzten Wort des Angeklagten bekam. Auf Grund der räumlichen Dichte war jede vorgetragene Klage über unverständige Kontrolleure, Vergeßlichkeit und Unkenntnis der Personenbeförderungsordnung der BVG ein öffentliches Ereignis für alle Wartenden und belehrendes Beispiel zugleich. Ich habe jedenfalls viel gelernt und ich bin nicht schlecht in Sachen Ausreden. Und alle Urteile über uns solcherlei Inkriminierte fand ich auch bestätigt: Ich brauchte nur die Akzente und das Outfit der Angeklagten sammeln, um zu wissen, wem ich von den Bewachern zugerechnet worden war. So sind wir, wußte ich nun.
Da es außer Wehklagen eines unglaubwürdigen Frauenzimmers keine größeren Widersetzlichkeiten der Beschuldigten gab, durfte ich schon nach einer knappen halben Stunde meine Papiere nebst Gutschein vorlegen, hörte mir den Hinweis an, daß mir die Gnade eines abgeminderten erhöhten Beförderungsentgeltes nur einmal im Geschäftsjahr zustünde, weshalb der Gutschein einzuziehen sei, zahlte gegen Quittung meine sieben Euro und wunderte mich nur noch, daß ich selbige beim Verlassen der Einrichtung nicht den Hellebardeuren zwecks Genehmigung des Austritts vorzeigen mußte.
Nachts dann hatte ich einen Traum: Die Steuerzahler Berlins, die jede Fahrt mit der BVG doppelt bezahlen – über den Fahrschein und die Zuschüsse aus dem von ihnen finanzierten Landeshaushalt – hatten sich entschlossen, keinerlei Fahrtentgelt mehr zu zahlen, bis das selbige auf ein soziales Maß herabgestuft sei. Und auf die Grunewaldstraße 1 hinzu bewegte sich ein mächtiger Demonstrationszug, sichtlich erkennbar aus lauter Schwarzfahrern, vornweg, wohl für die geharnischten Wächter gedacht, mit einem Transparent: Schlagt nicht, Brüder! Und: Weg mit der Zentralen Einzugsstelle für Erhöhte Beförderungsentgelte. Und: Wir haben schon genug gezahlt – jetzt wird gefahren. Es sah ganz nach Revolution aus, wie wir das aus einschlägigen sowjetischen Filmen sicher wissen.
Am anderen Tage berichtete ich der mir nahestehenden Person, der ich Erlebnis und Traum zu verdanken hatte und die ihrerseits einer mitregierenden linken Partei nahesteht. Und fragte sie, wie die Partei mit solchem Proteste umgehen würde. Oh, das wäre gut, den Protest könnten wir ins Parlament tragen. Und dann, fragte ich ? Nun, dann hängt es natürlich von den Mehrheitsverhältnissen im Parlament ab. Und eure Senatoren?, fragte ich vorsichtig nach. Hm, die sind ja an die Gesetze gebunden. Da fiel mir nur noch ein längst verblichener Revolutionär ein, der den Deutschen einst assistierte, daß sie, sei im Zuge einer Revolution ein Bahnhof (etwa auch der BVG oder S-Bahn, füge ich unhistorisch ein) zu besetzen, zunächst eine Bahnsteigkarte lösen würden. Endlich mal wieder ein Zitat, das paßt, dachte ich.