von Wolfram Adolphi
Nein, nicht in Berlin. Und auch nicht in Jerusalem. In Nikosia. Das Taxi bringt mich hin. Aus Kyrenia, einer kleinen Stadt an der nördlichen Küste. Pittoresk ist der Hafen dort mit dicken Festungsmauern, lauschigen Tavernen, einem überbordenden Andenkenladen und vielen schönen Segelbooten an Anlegestegen, die ins Wasser gebaut worden sind genau da, wo einst Koggen und Galeonen, später Dampf- und Motorschiffe am Kai lagen. Ganz so, wie man es sich am Mittelmeer vorstellt. Vom Hotel aus sehe ich einen kleinen Pavillon auf der Mole stehen. Aber alles ist grau in grau, denn es ist Februar, und das Mittelmeer leuchtet nicht.
Und geht man vom Hafen stadteinwärts, ist auch alles Pittoreske rasch wie weggeblasen. An den schmalen Straßen und Gassen stehen ein-, zwei- und dreistöckige, meist schmucklose Betonhäuser, die schnell erkennen lassen, daß hier kein Reichtum zu Hause ist. Überall sind kleine Werkstätten – für Autos, Fahrräder, Hausgerät – und die üblichen Filialen der üblichen Sanitär- und Heizungs- und Möbel- und Waschmaschinenketten. Das Lokalkolorit steuern die Gruppen jüngerer und älterer Männer bei, die in all diesen kleinen Unternehmen beschäftigt sind oder dort etwas zu erledigen haben und eine Weile zusammenstehen und miteinander schwatzen oder einfach nur schweigen oder dem Mechaniker auf der anderen Straßenseite, der sich gerade an einem Vergaser zu schaffen macht, kluge Ratschläge erteilen.
Ich bin im Nordteil der Mittelmeerinsel Zypern. Dort, wo im Jahre 1974 türkisches Militär einmarschierte, um einen türkisch-zyprischen Separatstaat zu errichten. Der ist aber nur von der Türkei selbst anerkannt.
Und nun also stehe ich am Grenzstreifen. In Nikosia, der Hauptstadt des einstmals ungeteilten Zyperns, die auf Türkisch Lefkoa heißt und nun ebenfalls geteilt ist. Ich bin mitten in der Stadt und erwarte dramatische Bilder, aber alles ist ganz anders. Der Taxifahrer kassiert meine türkischen Lira für die Zwanzig-Kilometer-Fahrt von Kyrenia hierher, wendet auf der schmalen, kleinstädtischen Straße und parkt seinen schon etwas in die Jahre gekommenen Mercedes auf einem holprigen Parkplatz neben den Fahrzeugen seiner Kollegen. Die Szene ist dörflich wie vor den Werkstätten in Kyrenia. Neue Passagiere werden kommen, bestimmt, und zwar von da, wo ich gerade hin will: aus der Pufferzone.
Die beginnt mit einem kleinen, vor Jahren einmal weiß getünchten Häuschen, an dessen Schalterfenster mir eine junge Frau gegen Vorlage meines Reisepasses einen Zettel herausreicht, auf dem ich meinen Namen und meine Paßnummer notiere, worauf sie mit einem Stempel alles beglaubigt. Und ich darf los. Ein Mann in Uniform und deutlich unangestrengter Haltung wirft einen knappen Blick auf mein Visum, und runde zweihundert Meter eigenartigen Weges liegen vor mir. Rechts und links sehe ich hinter Hecken und Zäunen Häuser, die seit dreißig Jahren unbewohnt sind und einen Anblick bieten wie Attrappen auf einem Truppenübungsplatz. In den Türen und Fenstern liegen Sandsäcke, an etlichen Stellen fehlen die Fensterscheiben, der Putz bröckelt. Aber das Bedrohliche daran ist seltsam aufgehoben durch die Friedlichkeit von Orangenbäumen und blühendem Gesträuch und durch die freundlich und gelassen den Weg passierenden Leute aus beiden Teilen der Stadt. Dann wird es rechterhand etwas martialischer. An einem mehrstöckigen Gebäude, das früher wohl ein Hotel gewesen ist, prangen mit weißer Farbe unübersehbar die Buchstaben UN, die Türen und die Fenster im Erdgeschoß sind mit Metallplatten gesichert, und Stacheldraht zeigt an, daß sich hier tatsächlich ein militärisches Quartier befindet. Ein paar Soldaten der UN-Mission sind dabei, einen Zaun zu reparieren.
Und dann bin ich schon durch die Pufferzone hindurch. Ein Uniformierter, genauso unangestrengt wie der auf der türkischen Seite, winkt mich weiter. Ich finde auf einem holprigen Parkplatz ein Taxi von der Art des gerade verlassenen, und für Zypern-Pfund komme ich an mein Ziel. Dieses Ziel ist der Sitz der AKEL, der linkssozialistischen Fortschrittspartei des werktätigen Volkes, die in der Republik Zypern – dem südlichen, völkerrechtlich souveränen Teil der Insel, der auch EU-Mitglied ist – zur Regierungskoalition gehört.
Wir haben uns zu einem Gespräch getroffen, und am nächsten Tag sehen wir uns im Nordteil der Insel wieder: beim ersten Parteitag der nordzyprischen Partei für ein vereintes Zypern. Der AKEL-Vertreter ist da ebenso selbstverständlicher Gast wie die Abgesandten fast aller anderen politischen Parteien aus dem Norden und dem Süden. Rund sechshunderttausend Einwohner hat der Süden, um die zweihunderttausend der Norden, das ist weiß Gott keine große Zahl. Parteitage wie der, zu dessen Beobachtung ich mich auf den Weg gemacht habe, haben fast etwas Familiäres. Alle Rednerinnen und Redner – auch die der Konkurrenz – wünschen der neuen Partei Erfolg auf ihrem Weg.
Und alle wissen, daß sie den Weg zu einem vereinten Zypern noch nicht kennen. Abends bei den Debatten in der malerischen Taverne am Hafen von Kyrenia wird mir bewußt, daß hinter dem Undramatischen des äußeren Bildes viele brennende Fragen verborgen sind. Zu lange schon lastet die Teilung auf dem Land, und diese Last wird immer größer, weil es scheinbar ein »kleiner« Konflikt ist, der im großen Weltgetriebe dem Vergessen anheim zu fallen droht. Die großen Unterschiede zwischen dem bessergestellten Süden und dem ärmeren Norden; die Isoliertheit des Nordens; die schwelenden Nationalismen, die durch die dreißigtausend Mann starke Präsenz türkischer Truppen im Norden und durch die von Ankara betriebene Politik zielgerichteter Neuansiedlung türkischer Familien in diesem Landesteil immer wieder angefacht werden – all das bedrängt die Menschen auf der Insel, aber kaum die Welt drumherum.
Dabei liegt der Nahe Osten mit seinen Kriegen und explosiven Spannungen hier im wahrsten Sinne des Wortes zum Greifen nah. Die Militärbasen, die sich die ehemalige britische Kolonialmacht auf unbestimmte Zeit in der Republik Zypern gesichert hat, sind »natürlich« Teil des britischen »Engagements« im Irak. Kann es sein, daß man deshalb um die Teilung des Landes international so wenig Aufhebens macht? Weil man im Grenzstreifen zwischen Europa und dem Nahen Osten seine Ruhe haben will?
Aber diese Art der »Ruhe« stellt Europa ein peinliches Zeugnis aus. Das Versagen der NATO, die es bis heute nicht vermocht hat, ihr Mitglied Türkei von der Unrechtmäßigkeit seiner Okkupation Nordzyperns zu überzeugen, wird nun durch das Versagen der EU ergänzt, einen Plan zu entwickeln, mit dem ganz Zypern Mitglied der Gemeinschaft werden könnte. Oder hält man es tatsächlich für denkbar, daß die Türkei EU-Mitglied werden könnte ohne eine Lösung des Zypern-Problems?
Meine Gesprächspartner in Kyrenia machen mir klar, daß es zwar richtig ist, die EU in die Pflicht zu nehmen, aber daß das nicht ausreichen wird. Die UNO ist gefordert, ihren Zypern-Plan von 2004 zu überarbeiten, und Rußland muß einbezogen sein in künftige Regelungen.
Als ich am frühen Morgen vom kleinen nordzyprischen Flughafen Ercan aus nach Istanbul fliege, um dort den Anschluß nach Berlin zu erreichen, verstärkt sich mein Gefühl, in einem Grenzstreifen gewesen zu sein, noch weiter: in einem Grenzstreifen zwischen der Fähigkeit, Konflikte dauerhaft friedlich zu lösen, und dem Eingebettetsein in die widersinnige Logik des »Krieges gegen den Terror«, die diese Fähigkeit immer öfter zunichte macht.
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