von Detlef Kannapin
Wer sich nach Weimar verirrt oder diese komplexe Stätte deutscher Nationalkunst und deutscher Barbarei bewußt aufsucht, wird auf Schritt und Tritt vor allem von der Vermarktung Goethes und Schillers verfolgt. Weimar heißt zwar auch Liszt, Bauhaus, Herder und Buchenwald; aber die Heroen der klassischen deutschen Nationalliteratur verströmen, wie es scheint, immer noch ihre Aura der Anwesenheit, so daß die umliegenden Wohnstätten behaglicher oder zu verdammender Bürgerlichkeit zurücktreten und in der zweiten Reihe Platz finden. Und das, obwohl gerade Goethe und Schiller in ihren Werken das Bürgertum, zu deren Lebzeiten noch in der Fortschrittsperspektive, hofierten und als Glück der Zukunft besangen. Goethe selbst war nur einmal in Berlin und zog sich dann nach Weimar zurück. Nach eigener Aussage wäre er in der Großstadt von seinen Werken und Taten abgelenkt worden …
Welche Erfrischung kann da manchmal der Weg ins Nationaltheater bieten. Um hinein zu gelangen, muß man zwar auch am Denkmal von Goethe und Schiller vorbei. Ist man aber im Foyer und erwischt ein Stück abseits der deutschen Helden, dann merkt man doch etwas vom Leben im Hier und Jetzt. Das Theater Weimar hat es nämlich gewagt, ein Stück auf die Bühne zu bringen, das für die Gegenwart eigentlich unverzichtbar ist, aber bereits in Vergessenheit geraten war: die Märchenkomödie Der Drache von Jewgeni Schwarz.
Das Drama war in der DDR vor allem durch Benno Bessons Inszenierung von 1965 bekannt. Es hatte in Berlin mehr als fünfhundert Aufführungen. Außerdem war es in Ausschnitten Schulstoff der elften Klassen, wenn die Deutschlehrer ihren Spielraum nutzten und nicht allzu dogmatisch an den hohlen Varianten des sogenannten Sozialistischen Realismus festhielten. Zur Erinnerung: Jewgeni Schwarz (1896–1958) war ursprünglich Schauspieler und Journalist. In der Mitte seines Lebens begann er in der UdSSR, Märchen zu verfassen, die Motive von Hans Christian Andersen aufnahmen und sich der Äsopschen Sprachmaske bedienten.
Zentrum aller seiner Arbeiten war die Kritik der Anpassung von Individuum und Kollektiv an Machtstrukturen. Der Drache wurde 1943 aus Protest gegen den Faschismus geschrieben. Die stalinistische Bürokratie beargwöhnte den Stoff allerdings auf Grund der Anwendbarkeit der Hauptaussagen auf das eigene System, so daß es erst postum 1960 veröffentlicht werden konnte. Die Uraufführung im Theater fand interessanterweise 1961 im polnischen Nowa Huta statt, es folgten die deutschsprachige Premiere 1962 in Stuttgart und dann eben Besson. In Erinnerung geblieben ist mir, daß ich als Schüler und Abiturient noch in den achtziger Jahren die Gelegenheit gehabt hätte, den Drachen in Berlin zu erleben. Eine so lange Laufzeit war etwas Besonderes. Und nun kann die aktuelle Anschauung nachgeholt werden, in Weimar.
Eine nicht näher bezeichnete Stadt wird seit hunderten von Jahren von einem Drachen beherrscht. Er schützt die Einwohner, preßt ihnen aber auch jährlich tausende von Opfertieren und die schönste Jungfrau der Stadt ab. Der Berufsheld Lancelot erfährt davon und wundert sich, daß niemand gegen den Drachen aufbegehrt. Er beschließt, gegen den Drachen zu kämpfen und besiegt ihn. Daraufhin erleben die Städter kurze Momente der Freiheit, die vom korrupten Bürgermeister jedoch dazu benutzt werden, die Macht autoritär an sich zu ziehen und das Spiel des Drachen nun demokratisch bereinigt weiterzuführen. Der im Kampf angeblich gefallene Lancelot kehrt enttäuscht zurück und überläßt die kleingeistige Stadt nach mahnenden Worten ihrem Schicksal.
Es ist zweifellos mehr ein Lehrstück nach Brecht-Manier als eine Märchenkomödie. Beklemmungen machen sich breit, denn Der Drache ist gegenwärtig wie nie. Zu ratlos auch wirkt das zeitgenössische Theater, ein weiterer Spiegel der Ratlosigkeit unserer Epoche, das auf frühere Werke angewiesen ist, um die neue Übergangsgesellschaft kenntlich zu machen, die Volker Braun damals dem Spätsozialismus widmete und die heute den spätkapitalistischen Krisentendenzen als Ahnung, nicht als Kraft, anheimgestellt wird. Es ist beileibe nicht nur die Warnung, die vor der Korruption durch Macht verkündet wird. Zu spüren ist darüber hinaus die Einsicht, daß nur der Kollektivgedanke den Mächtigen der Welt Paroli bieten kann. Schwer genug.
Dem Weimarer Hausregisseur Tillmann Köhler gebührt der Dank für diese solide Adaption, die sich in Grundzügen positiv dem Original verschrieben hat. Lediglich der ursprüngliche zweite Akt wird dramaturgisch geschickt aufgeteilt und die Pause hinter den Beginn des Kampfes mit dem Drachen gelegt. Ein spartanisches Bühnenbild läßt die durchweg hervorragenden Schauspieler voll zur Geltung kommen.
Das heterogene Publikum, zusammengesetzt aus Stadtprominenz und kunstbeflissenen Studenten, lieferte stehende Ovationen im halbleeren Nationaltheater, dessen Größe dem vermutlichen Zuschauerinteresse Weimars keineswegs entspricht, weshalb diese Premiere dennoch durchaus als Erfolg verbucht werden kann. Wir brauchen solche Stücke. Und in Weimar sind sie an der richtigen Stelle, schon als Kontrapunkt zur Tradition und zur bürgerlichen Festgefahrenheit. Bleibt zu wünschen, daß Der Drache einige Gastspiele bekommt und daß das Engagement des Weimarer Theaters in solch kritischer Hinsicht nicht erlahmt.
Der Drache von Jewgeni Schwarz, Märchenkomödie in der Spielfassung des Deutschen Nationaltheaters Weimar, Regie: Tillmann Köhler, 165 Minuten inklusive einer Pause, Karten zwischen 15 und 40 Euro, wieder am 16. April 2006
Schlagwörter: Detlef Kannapin