von Jens Knorr
Katja Czellnik hat Erfahrungen gemacht, 1999 in Kiel und 2006 in Berlin, wo sie an der Komischen Oper ihre Kieler Inszenierung von Astor Piazollas Operita María de Buenos Aires recycelte. Angesichts der unerfreulichen Präsentation der vollmundig versprochenen neuen Erfahrungen ist es zumindest erfreulich, nicht Czellniks alter ansichtig geworden zu sein. Oder waren die neuen nur die neugewandeten alten?
In dem weißen Kabinett von Bernd Damovsky bewegt sich eine Laienspielschar von an die dreißig Männer und Frauen verschiedenen Alters, die Quetschkommoden vor der Brust, jedem die seine, und ein jeder tut, als würde er ihr Töne entlocken oder Lieder, die das Leben schrieb. Man läuft hierhin und dorthin, gegen Wände und Körper, man schlägt und verträgt sich, zeigt einmal Symptome von Klaustrophobie, ein andermal von Fallsucht, und steht wieder und wieder wie bestellt und von der Regie nicht abgeholt herum – anderthalb Stunden wohlständisches Elendsgesülze in kunstgewerblicher Choreographie, die ebensogut oder -schlecht auch die Chorsolisten des Hauses hätten ausführen können. Wenngleich, da stumm, nicht ganz für umsonst.
Was auf dem Theater nicht stattfindet, das findet in Übertitelungen und Programmheft statt: Karin Sañtos hat unter Mitarbeit von Daniela Schneider die unübersetzbare Dichtung von Horacio Ferrer kongenial aus dem Lunfardo – ein Sprachgemisch aus Spanisch, Italienisch, anderen Einwanderer- und Indiosprachen – ins Deutsche übersetzt. Die meint alles andere als dunkles Raunen. Seine Metaphern scheint der Text aus sich selbst hervorzutreiben, sie verschlüsseln nicht, sondern entschlüsseln, sie bringen die Wirklichkeit lateinamerikanischer Modernisierungsdiktatoren in sprachliche Bilder. In der ist María Gottesmutter und Büßerin, aber auch die neugeborene Erlöserin, Mutter, Tochter und heiliges Fleisch, ist Gefolterte und Ermordete, Untote und Wiedergeborene, ist die eine und die vielen, Hoffnung der Zuhälter und Nutten, Emigranten und Asylanten, Schutzpatronin der Stadt Buenos Aires: María, das ist der Tango.
Und die Musik, was meinen die musikalischen Formen dieser späten Schwesteroper des Wozzeck, wenn Alban Berg sie denn Marie geheißen hätte? Was meinen Milonga, Ballade, Fuge, Walzer, Toccata, Romanze? Einige Schrittfolgen des sich selbst überlassenen Tanzduos Stravaganza (Ulrike Schladebach und Stephan Wiesner), das noch in der Umarmung den Faustschlag spüren läßt, oder der aggressive Tangoschritt der Leute auf der Bühne, die sich für einen Moment zur Kampfformation zusammenschlossen haben, lassen ahnen, daß die Tangos des Astor Piazolla unter Blumen eingesenkte Kanonen sein könnten. Wenn sie denn jemand szenisch erlöste.
So sehr sich Daniel Bonilla Torres (El Duende) auch abmüht, wenigstens das musikalische Geschehen aus seiner aufgeräumten Handwerklichkeit zu reißen, so ungern lassen sich die Mitglieder des Orchesters der Komischen Oper unter Leitung von Per Arne Glorvigen, der auch das Bandoneon spielt, sowie die Solisten Julia Zenko (María) und Matthias Klein (El Cantor) aus dem Edelschlummer gefälligen Tango Argentinos wecken. Von Tango Nuevo kein Ton!
Die Opernbühne ist kein Dschungelcamp, wo man endlich mal was erleben kann, endlich mal leben kann. Anstatt Stück und Darsteller zu Objekten ihrer Erfahrungssucht zu degradieren, hätte Czellnik zuerst sich den Erfahrungsschichten des Stücks und den Lebenserfahrungen ihrer Darsteller ausliefern müssen – und dann uns, dem Publikum.
Komische Oper Berlin, Vorstellungen am 7., 18., 25. März, 1. April 2006
Schlagwörter: Jens Knorr