Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 20. März 2006, Heft 6

Unterwegs

von Wladislaw Hedeler

Wo sie herkamen, nannte man sie oft abschätzig »die Deutschen«. Jetzt sind sie »die Russen«. Den Staat, in dem sie aufwuchsen, gibt es nicht mehr, das Land, in dem sie angekommen sind, haben sich viele der zwei Millionen anders vorgestellt. Wäre da nicht ihr Akzent, würden sie kaum auffallen. Die Alten leben von einer Pension, die oft auch ausreichen muß, um »daheimgebliebene« Angehörige zu unterstützen. Ihre Kinder und Kindeskinder – in der einstigen Heimat hieß es oft im Scherz, wenn sie kommen, dann stets mit der ganzen Kolchose – haben es hier schwerer als die Eltern und nicht immer einen Job. Geld stinkt nicht, sagte ein Klomann zu mir, der im vorhergehenden Leben als Kraftfahrer arbeitete. Viele aus der Elterngeneration, die ich während der Recherchen über sowjetische »Besserungsarbeitslager« kennenlernte, haben irgendein Hochschuldiplom in der Schublade. Dort liegt es heute oft neben vergilbten Fotos und vollgeschriebenen Schulheften. Darin stehen ihre Geschichten, die sie ein Leben lang mit sich herumgeschleppt haben. Ob es die Erzählung über Ritas Leute ist, der sich der Rowohlt-Verlag annahm, oder Julius Wolfenhauts Lebensbericht, der jetzt im Fischer-Taschenbuchverlag erschienen ist, es handelt sich um Geschichten aus einer fremden Welt.
Julius Wolfenhaut wurde von Wolfgang Benz »entdeckt«. Der Historiker, der dem Erinnerungsband eine einfühlsame Einleitung voranstellte, gehört zu den Organisatoren einer für Mai 2006 in der Technischen Universität Berlin angesetzten Tagung über Die Vergangenheit in der Gegenwart. Es geht um Familientherapie in historischem und politischem Kontext. Man darf darauf gespannt sein, wie die Professoren, ein Historiker und ein Familientherapeut, Julius Wolfenhauts Bericht kommentieren werden.
Wolfenhaut, 1913 geboren, wuchs in Czernowitz auf. Es mag ein Zufall sein, daß fast zeitgleich mit dessen Erinnerungen Helmut Braun im Chr. Links Verlag einen Band zur Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole Czernowitz herausgegeben hat. Hier kann nachgelesen werden, wie die Deportation der Juden in der Nordbukowina vorbereitet und durchgeführt wurde, die das Leben der Familie Wolfenhaut grundlegend ändern sollte.
1941, ein Jahr nach der Verhaftung seines Vaters, wurden Julius und seine Mutter nach Sibirien, nach Stalinka, deportiert. Wolfenhaut fand Arbeit als Lehrer und blieb dies ein Leben lang. 1993, im Alter von achtzig Jahren, erhielt er die Rehabilitierungsurkunde. Ein Jahr darauf reiste er mit seiner Familie nach Deutschland aus. Im Gepäck – viel konnte er nicht mitnehmen – hatte er ein Manuskript, das er im Alter von 78 Jahren verfaßt und Streiflichter aus dem Roten Reich genannt hatte.
Wolfenhaut hatte erlebt, wie seine österreichische Geburtsstadt in das rumänische Cernãuti umgetauft wurde. Vom 28. Juni 1940 an hieß die Stadt dann Tschernowzy. »Der Bevölkerung wurden drei Tage Zeit gelassen, sich zu entscheiden: zu bleiben oder sich nach Rumänien fortzumachen. Den Juden, der Mehrheit der Einwohner von Czernowitz, fiel die Entscheidung schwer.« Zu den Antisemiten in Rumänien wollten sie nicht, was sie unter den Sowjets erwartete, wußten sie nicht. Doch sie sollten es bald erfahren. Die Verbitterung über das ihm und der Familie Angetane, die Erniedrigung spiegelt sich in der Diktion des Erinnerungsberichtes wider. Deutlicher kann der Bruch zwischen den Kapiteln, die die Vorgeschichte und die Sowjetzeit zum Inhalt haben, nicht sein.
Die neue Macht erlebte der Junge in Gestalt der NKWD-Büttel, deren »wölfische, raubtierähnliche Visagen« er nicht vergessen kann. Sie holten den Vater ab. Doch es sollte noch schlimmer kommen: »In der nach der Haussuchung abgeschlossenen zwei Zimmern bezogen zwei NKWD-Schergen mit ihren Frauen Quartier. Die Eindringlinge hatten unser Schlafzimmer und unser Speisezimmer besetzt, schliefen in unseren Betten, […] benutzten unsere Wäsche, fraßen mit unserem Besteck und aus unserem Geschirr. Ihre Weiber blickten auf uns geringschätzig und fast mit Ekel herab […].«
Wolfenhauts Bericht ist eine bedrückende Schilderung eines gottlob gelungenen Versuchs zu widerstehen. »Um gerecht zu sein, will ich betonen, daß die Einheimischen um nichts besser gestellt waren«, heißt es über die Ankunft in Sibirien. Der Verbannte arbeitet zunächst in einem Kolchos. Seine Mutter verhungert, er überlebt. Die nächste Station ist Tomsk, wo der Ingenieur eine Anstellung als Physiklehrer findet. Er bewährt sich und wird nach dem Krieg als Lehrer in einer Schule für minderjährige Häftlinge eingesetzt. »So vergingen die Jahre. Ich kam zu der Einsicht, daß ich meinen Lebenswandel von Grund auf ändern müsse, um mich vor dem Hinsiechen, das wie ein Sumpf mich langsam in die Tiefe zog, zu retten.« Julius Wolfenhaut heiratete eine aus der Krasnojarsker Region Verbannte. Ihre Lebensgeschichte unterschied sich wenig von seiner. »Das Geschick hatte mir eine liebe, gute Frau zur Seite gestellt, und mit ihr kamen Freude, Ordnung und Lachen ins Haus.«
Das Leben der einfachen Leute »im grauen sowjetischen Einerlei« folgte eigenen Regeln und Gesetzen. Nebo wysoko, Zar daleko – Der Himmel ist hoch und der Zar weit, lautet ein russisches Sprichwort. »Der unfehlbare Generalissimus war in das marxistische Himmelreich eingegangen. Sein Nachfolger Chruschstschow führte eine Reihe von Reformen durch.« Wolfenhaut wurde 1956 von der Kommandantur losgesprochen, erhielt einen »richtigen Personalausweis« und arbeitete fünfundzwanzig Jahre lang als Lehrer an einer Spezialschule mit erweitertem Deutschunterricht. Die Bolschewiki hatten ihm alles genommen, schreibt Wolfenhaut, »die Eltern, die Liebe, die Habe, die Heimat; sie hätten mir auch die Sprache genommen – wenn sie es vermocht hätten«.
Daß sie es nicht vermocht hatten, beweist das in deutscher Sprache niedergeschriebene und den Eltern gewidmete Manuskript, das nunmehr, nach ausgesprochen gelungener Bearbeitung auch als Buch vorliegt. Es richtet sich an Leser in der »westlichen Welt« und bietet Erfahrungen und Einsichten aus fünfzig Jahren Leben in Sibirien.

Julius Wolfenhaut: Nach Sibirien verbannt. Als Jude von Czernowitz nach Stalinka 1941-1994, Fischer Taschenbuchverlag Frankfurt am Main, 186 Seiten, 9,90 Euro