von Wladislaw Hedeler
In der Moskauer Metro fällt neben den bunten Reklametafeln die Werbung für die Verfilmung von Alexander Solshenizyns Im ersten Kreis auf. Das Plakat sieht wie eine Seite der Parteizeitung Prawda aus. Die Überschriften der mit Sonnabend, den 29. Januar 1949 datierten Ausgabe lauten: Endlich hat man die Leningrader verhaftet, Wer hat die Atombombe gestohlen und Zar Igor – ein Volksfeind. Daneben das Foto einer Strafakte.
Daß der erste Teil am Vorabend des in Rußland wenig beachteten fünfzigsten Jahrestages des 20. Parteitages der KPdSU gesendet wurde, in dessen geschlossener Sitzung Nikita Chruschtschow das Referat Über den Personenkult und seine Folgen gehalten hatte, war kaum Zufall. Ansonsten hatte nur die Gorbatschow-Stiftung ein von Historikern, Literaturwissenschaftlern und Zeitzeugen gut besuchtes Rundtischgespräch organisiert. Immer wieder war zu hören, daß bis auf den heutigen Tag nicht alle Hintergründe für die Auswahl der von Chruschtschow angeführten Beispiele für die Repressalien bekannt seien. Die von Michail Gorbatschow formulierte und von allen Diskussionsrednern aufgegriffenen These lautete, daß dies nicht überraschend sei, denn die Entstalinisierung sei von den Gegnern dieses Kurses immer wieder behindert und gestoppt worden. Seine Befürworter hätten es nur selten vermocht, die von Chruschtschow vorgegebenen Denkmuster der Kritik am Personenkult weiterzudenken. Die auf Solshenizyns Buch fußende Verfilmung bringt es auf den Punkt: Nicht die Tyrannei, der Tyrann wurde bloßgestellt.
Damit begonnen zu haben, bleibt aber Chruschtschows Verdienst. Wo wären wir heute ohne die mutige Aufdeckung der unter Stalin begangenen Verbrechen? Viele der einflußreichen Gefährten Chruschtschows wollten diesen Weg nicht weiter beschreiten. Weil dem so war, habe sich die Staatsmacht wieder zu einer gnadenlosen, sich der Rechenschaft gegenüber dem Volk entziehenden Kraft entwickeln können. Die Duma gleiche einem Scheinparlament, ein funktionierendes Parteiensystem gebe es nicht, die Repressivorgane seien mächtiger und unkontrollierter als je zuvor in der russischen Geschichte. Mit dieser Kritik trat unter anderen der Dumaabgeordnete Vladimir Ryshkow hervor. Solange Rußland am »historischen Sonderweg« und der »Einmaligkeit als Großmacht« festhalte, könnten die Wurzeln des Übels nicht ausgerottet werden. Ein Ausweg aus der »stabilen Instabilität« sei nicht in Sicht.
Wer sich ernsthaft ein Bild vom Zustand der »Aufarbeitung der vaterländischen Geschichte« machen will, sollte den ersten Kreis verlassen: gemeint ist allerdings der erste Kreis der Ringbahnlinie der Moskauer Metro. Was man zu sehen bekommt, erinnert an das russische Volksmärchen, in dem die Recken vor der Entscheidung stehen, welchen Weg sie einschlagen wollen: Gehst du nach rechts, verlierst du dein Pferd, gehst du nach links, verlierst du den Kopf, gehst du geradeaus, kommst du nach Nirgendwo.
Im Süden Moskaus gelangt man von der Metrostation zum Friedhof Donskoe und von dort aus über den Fluß Moskwa zum Friedhof Nowodewitschje in der Nähe der Metrostation Sportiwnaja. Beim Verlassen der Metrostation Schabolowskaja fällt der Blick als erstes auf den Sendemast des einstigen Komintern-Senders. Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zum Donskoe Kloster. Am Ende der hohen Klostermauer mit ihren Türmen und Zinnen, hinter denen die Kirchenkuppeln glänzen, beginnt eine schmucklose Ziegelmauer. Hier ist der einstige Stadtrand noch zu spüren, die Bebauung ist spärlich, die Parkanlagen weitläufig. Das nahegelegene Fabrikgebäude wurde 1914/15 erbaut.
Folgt man den Wegweisern, gelangt man über verschneite Pfade zu den Grabfeldern 1 und 2. Zwischen eingezäunten Gräbern, kurz vor der an das Kloster grenzenden Mauer, steht ein Granitblock. Seiner Inschrift ist zu entnehmen, daß hier nicht abgeholte Urnen vergraben worden seien. Aus dem Schnee ragen nur einige wenige, mit Namenszügen versehene Tafeln hervor. Wie viele es insgesamt sind, ist nicht zu erkennen. Die Angehörigen konnten die Urnen nicht mehr entgegennehmen, denn sie waren bereits selber im Gefängnis oder als »Angehörige von Volksfeinden« auf dem Weg in die »Besserungsarbeitslager«.
Über den Lenin-Prospekt, der vom Friedhof aus über die Stassowa-Straße zu erreichen ist, gelangt man zur Moskwa-Brücke. Von hier ist es nicht mehr weit bis Nowodewitschje. Dieses Kloster war stets ein Anziehungspunkt für Touristen. Jetzt ist auch der Friedhof – der jahrelang geschlossen war, weil auf ihm jene Vertreter der Partei-Nomenklatura ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten, die nicht zu »Feinden des Volkes« erklärt und »wie räudige Hunde« in den Moskauer Gefängnissen erschossen worden waren – wieder für den Publikumsverkehr geöffnet. Im Unterschied zu ihren Opfern wurde ihre Asche nicht hinter dem Krematorium verscharrt. Sie ruhen, wie zum Beispiel Lasar Kaganowitsch, Stalins Mittäter, unter monumentalen Grabsteinen. Nikita Chruschtschows Grab befindet sich am Ende der Allee. Der einst golden glänzende Kopf zwischen dem schwarzen und weißen Marmor hat Patina angesetzt.
Verläßt man die Ringbahn im Osten, erreicht man den zwischen den Metrostationen Ploschtschad Iljitscha und Proletarskaja gelegenen Kalitninskij-Friedhof – über die Skotogonotschnaja-Straße. Auf ihr wurde einst das Vieh für Moskaus Schlachthöfe entlanggetrieben. Daher hat die Straße ihren Namen. Später karrte man auf ihr die Leichen der in den NKWD-Kellern Exekutierten zum Stadtrand. Nichts erinnert heute an das, was hier einst geschah.
Auf dem Hinterhof des Krankenhauses am Fluß Jausa, das in jenen Jahren über einen eigenen kleinen Friedhof verfügte, liegt zwischen Tannenbäumchen ein Stein. Hier waren die ersten Opfer verscharrt worden. Die nahegelegene Uljanowskaja-Straße mündet in die Ausfallstraße nach Nowgorod, auf der unter dem Zaren die verbannten Revolutionäre entlanggetrieben wurden. Es ist die Chaussee der Enthusiasten. So hatte Anatoli Lunatscharski einst die Verbannten genannt. Ihre Nachfolger während des Großen Terrors wurden mit Lastwagen transportiert: nach Butowo beziehungsweise Butowo-Kommunarka, als Leichen, weil auf den Moskauer Friedhöfen kein Platz mehr war.
Wer die Station Uliza 1905 goda in Richtung Westen verläßt, gelangt zum Friedhof Wagankowskoe. Es ist neben Nowodewitschje der zweite Moskauer Prominentenfriedhof. Auch hier wurde ein Gedenkstein für die Opfer der politischen Repressalien errichtet.
So wird es wohl noch eine Zeitlang weitergehen, denn an ein zentrales, zuletzt von der 19. Parteikonferenz der KPdSU angeregtes Memorial, ist in absehbarer Zeit nicht zu denken. Während heute die Menschenrechtsorganisation Memorial verdächtigt wird, vom Westen gekauft zu sein, steht mitten in der City ein vom Staat finanziertes Gulag-Museum. Die Mitarbeiterin des auf halbem Wege zwischen der ehemaligen Auskunftsstelle des NKWD am Kusnetzki Most und der einstigen »Komintern-Absteige«, dem Hotel Lux, gelegenen Museums zuckte nur mit den Schultern, als ich sie nach der Zukunft des Hauses – in bester Lage zwischen all den Banken und Schikeria-Läden – fragte.
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