Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 20. März 2006, Heft 6

Frühjahrsputz im CD-Regal

von Walter-Thomas Heyn

Dem Frühjahrsputz als gesamtgesllschaftlichem Phänomen ist bisher zu wenig Beachtung geschenkt worden. Wenn die Devise Alles neu macht der Mai vorahnungschwanger durch erste winzige Spuren des grünen Märzgrases sich ankündigt und wenig später die beste aller Ehefrauen aprilfrisch die Wohnung in ein Sterilarium verwandelt hat, wenn Mann bei OBI und ähnlichen modernen Götzen-Tempeln Geräte, Sand und neue Umfassungssteine ordert – dann ist er da, der Frühüling.
Mit meinem CD-Regal hat dieser quasi-sinfonische Aufgesang nur insofern zu tun, als selbiges aus allen Nähten platzt. In Doppelreihe stehen sie da, die armen Silberlinge, zur Hälfe unsichtbar, zur Hälfte ungehört. Wußten Sie, daß sieben Veröffentlichungen pro Tag in Deutschland stattfinden? Weder Händler noch Hörer haben eine Chance, diesen Butterberg an Musik zu verarbeiten. Da hilft den Künstlern und Produzenten nur, eigene Wege zu finden und sich von der Masse der Veröffentlichungen abheben zu wollen. Vier dieser Versuche, allesamt wohlgelungen, möchte ich heute vorstellen.
Das gewichtigste Werk betrifft Herbert Blomstedt, den legendären schwedischen Dirigenten, der lange Jahre eng mit dem Gewandhausorchester Leipzig verbunden war. Das ambitionierte Altenburger Label Querstand veröffentlicht wesentliche Einspielungen dieses Meisters aus den Jahren 1998 bis 2005 auf fünf CD im edlen samtfarbenen Schuber und mit einem brillanten Begleitheft von 128 Seiten, dieses eine verlegerische Glanztat, der dringend lebhafte Resonanz beim Publikum zu wüschen ist. Es erklingen Werke von Hiller (Die Jagd), Reger (Hiller-Variationen), Matthus (das legendäre Responso in einer Neuaufnahme von 2004), Mendelssohn (unter anderem die Schottische Sinfonie), Bruckner (3. Sinfonie, die sogenannte Wagner-Sinfonie), Brahms (2. Sinfonie), Nielsen (3. Sinfonie) und Beethoven (da da da daaaa). Alleine die Nennung der Werke verweist auf den führenden Rang, den Leipzig als Musikstadt über viele Jahrzehnte innehatte und hoffentlich weiter haben wird (Querstand, VKJK 0507).
Dagegen wirkt die CD-Einspielung von Thomas Noll, dem Kantor der Sophienkirche Berlin, etwas bescheiden, ist aber im musikalischen Inhalt durchaus ebenso gewichtig. Wie lieblich … ist die CD betitelt und enthält konzertante Orgelmusik von Mendelssohn-Bartoldy, Bach, Brahms, Reger, Rinck, Schönberg, Rheinberger und Crumb. Die Disposition der Schukeorgel aus dem Jahre 1970 ist gründlich vermerkt, das Beiheft liebevoll mit Fotos der Kirche und des Instrumentes versehen. Der Erlös aus dem Verkauf fließt in den Erhalt der Sophienkirche. Thomas Noll, einer der innovativsten Organisten Berlins, wagt es sogar, jenseits der Orgelspielerroutine Werke avancierter Klangsprache einzuspielen. (Blümlein records, LC 13941, keine Bestellnummer).
Dimitri Schostakowitsch wird allerorten gefeiert, zu Recht. Der vielleicht letzte große Sinfoniker der abendländischen Musik wurde vor einhundert Jahren in Petersburg geboren. Schostakowitschs Interessen und Sympathien auf musikalischem Gebiet waren sehr breit gefächert, was er, selbst mit dem oft zitierten Satz, er möge jede Musik von Bach bis Offenbach, zum Ausdruck brachte. Er war ein Autor, der sich mit Spaß und Begeisterung auf dem Feld der sogenannten Unterhaltungsmusik bewegte. Für diejenigen, die Schostakowitsch nur als Komponisten für den Konzertsaal in der Tradition Beethovens kennen, wird die vorliegende CD so manche Überraschung bieten.
Obwohl sich Schostakowitsch Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre intensiv mit Volkstheater und Varieté beschäftigt hatte, wagte er sich erst im Jahre 1934 an ein spezifisch jazzorientiertes Werk – angeregt durch einen Wettbewerb in Leningrad, der sich zum Ziel gesetzt hatte, den Jazz von der Caféhausatmosphäre auf das Niveau ernster, ernstzunehmender Musik zu heben. Genau das ist Schostakowitsch mit seinem Beitrag, der dreisätzigen Jazz-Suite Nr. l, gelungen, die Ausdrucksbereiche erschloß, die man allgemein als »ernster« empfindet. Eine zweite Jazz-Suite, komponiert für Viktor Knusnewitzky und sein Staatsorchester für Jazzmusik, folgte im Jahre 1938; die Partitur ging allerdings während des Zweiten Weltkriegs verloren. Erst im Jahre 2000 hat der Komponist und Musikwissenschaftler Gerald McBurney auf der Grundlage eines wieder aufgetauchten Klavierauszugs drei Sätze für eine Aufführung im Rahmen der Last Night of the Proms in London rekonstruieren können; seitdem ist Material für weitere Sätze entdeckt worden, alle berstend voll von hinreißender Musik von selten gehörter Vitalität.
Die drei Ballettmusiken Schostakowitschs gehören zu seiner frühen radikalen Periode, etwa die Jahre von 1926 bis 1934. Der Erfolg seines ersten Balletts Das goldene Zeitalter (1930) war nur von kurzer Dauer gewesen; kaum sechs Monate später hatte Schostakowitsch sein zweites Ballett mit dem Titel Der Bolzen vollendet, es wurde am 8. April 1931 am Kirow-Theater in Leningrad uraufgeführt. Fjodor Lopuchows Szenarium, mit dem Zentralthema Industriesabotage, bildete die Vorlage für eine Musik, die auf zirkusartiger Groteske aufbaut. Schostakowitsch stellte, entsprechend der üblichen Praxis, aus der Ballettmusik eine Konzertsuite zusammen; einer stürmischen Ouvertüre mit mehr als nur einem liebevollen Seitenhieb gegen Tschaikowskys Ballettmusik folgt Der Bürokrat in Gestalt einer Polka, mit dem Fagott in einer Paraderolle. Der Tanz des Kutschers ist eine kurze Folge von Variationen über ein kraftvolles Thema, ganz im Stil der russischen Volksballette. Koselkows Tanz mit Freunden dagegen wendet sich den populären Tänzen der dekadenten westlichen Bourgeoisie zu, namentlich dem Tango, um die Übeltäter im Ballett musikalisch darzustellen. Die Suite endet mit Allgemeinem Tanz der Begeisterung und Apotheose – schwungvoll, überschäumend. ungeheuer(lich). Welche Zukunft hätte diese Vergangenheit haben können! Zum Glück sterben Diktatoren. Aber Kunst bleibt. Hier ist solche zu erhören: Meine Platte des Jahres (Naxos 8.5559-49).