von Frank Ufen
Bis vor nicht allzu langer Zeit gab es in Kanada noch Täler der Ahnungslosen – nämlich abgelegene Gegenden, in denen nicht ein einziger Fernsehsender zu empfangen war. Diese ungewöhnliche Situation machte sich ein Forscherteam unter der Leitung des Sozialpsychologen Tannis MacBeth Williams zunutze. Die Wissenschaftler pickten sich drei kleine Gemeinden heraus, zwischen denen es ein Höchstmaß an soziokulturellen und sozioökonomischen Gemeinsamkeiten gab. Doch in der ersten Gemeinde war bis zum Jahre 1973 aus technischen Gründen kein Fernsehempfang möglich gewesen. In der zweiten gab es zwar schon seit sieben Jahren Fernsehen, allerdings zunächst nicht mehr als ein Programm. In der dritten Gemeinde schließlich hatte das Kabelfernsehen schon lange vorher Einzug gehalten. Die vergleichende empirische Untersuchung förderte einen erstaunlichen Zusammenhang zu Tage. In der Gemeinde, in der das Fernsehen zuletzt eingeführt worden war, kam es innerhalb von nur zwei Jahren bei Kindern und Jugendlichen zu einer Verdreifachung aggressiver und gewalttätiger Akte. In den beiden anderen Gemeinden hingegen veränderte sich das nur unwesentlich.
Im Januar und Februar 1981 strahlte das ZDF den Mehrteiler Tod eines Schülers aus. Der Film, in dem es um einen Jugendlichen geht, der sich aus Verzweiflung vor einen Zug wirft, wurde im Oktober und November 1982 wiederholt. Um herauszufinden, ob durch diese Sendung Nachahmungseffekte ausgelöst worden waren, erforschten die Psychologen Armin Schmidtke und Heinz Häfner die Häufigkeit von Eisenbahn-Suiziden junger Deutscher im Zeitraum von 1976 bis 1984. Die statistische Untersuchung führte zu einem eindeutigen Ergebnis. In den beiden Jahren, in denen der Film ausgestrahlt worden war, hatten Suizide solcher Art um zweihundert Prozent zugenommen. Daß die Filmszenen lediglich bewirkt hatten, ohnehin zum Selbstmord Entschlossene zu veranlassen, sich früher oder so und nicht anders umzubringen, konnte ausgeschlossen werden. Denn in der Folgezeit kam es weder zu einem Rückgang der Suizidfälle noch zu einer Abnahme anderer Arten des Suizids.
Wie sähe die Welt heute aus, wenn das Fernsehen und die anderen elektronischen Bildschirmmedien nie erfunden worden wären? Dann gäbe es allein in den Vereinigten Staaten jährlich zehntausend Morde, 70000 Vergewaltigungen und 700000 Gewaltdelikte weniger – behauptet der amerikanische Epidemiologe Brandon Centerwall, und der Ulmer Gehirnforscher und Mediziner Manfred Spitzer gibt ihm völlig recht. Und welche Folgen hat es, wenn Kinder im Vorschul- und Grundschulalter mehr und mehr Zeit vor den Bildschirmen von Fernsehern, Computern und Videospielgeräten verbringen? Nach Spitzers Erkenntnissen sind die Folgen in jeder Hinsicht verheerend. Je früher und je länger die elektronischen Medien genützt würden, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit, übergewichtig zu werden, an Diabetes zu erkranken und an einem Schlaganfall, einem Herzinfarkt oder Lungenkrebs zu sterben. Und desto größer sei die Wahrscheinlichkeit, gewalttätig zu werden, an Aufmerksamkeits- und Lernstörungen zu leiden, das Lesen und Verstehen von Texten nur mangelhaft zu beherrschen, zum Außenseiter zu werden und sich mit Depressionen und irrationalen Ängsten herumzuplagen.
Schon sechs Monate alte Säuglinge verfügten über die Fähigkeit, das, was sie mit ihren fünf Sinnen wahrnehmen, ganzheitlich wahrzunehmen, es zueinander in Beziehung zu setzen und die Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, denen es unterworfen ist. Hierdurch erlebten sie nicht nur Farben, Geräusche oder Gerüche, sondern machen handfeste Erfahrungen mit belebten und unbelebten Objekten und lernten ihre wesentlichen Eigenschaften nach und nach kennen. In den Vereinigten Staaten verbringen jedoch mittlerweile schon Zweijährige durchschnittlich fast zwei Stunden täglich vor dem Bildschirm. Das bedeutet, daß die heranreifenden Gehirne von Säuglingen und Kleinkindern immer öfter statt mit der realen Welt nur noch mit ihren dürftigen Abbildern konfrontiert würden. Doch damit, erklärt Spitzer, werde der Aufbau der kognitiven Schemata erheblich erschwert, die dazu dienen, die Sinneseindrücke zu ordnen und die Außenwelt in ihrer Vielschichtigkeit zu erkennen.
In den USA hat ein Schüler nach Absolvierung der Highschool etwa 13000 Stunden in der Schule und mindestens 25000 Stunden vor dem Fernsehapparat zugebracht. Und schon nach Abschluß der Grundschule hat er tausende Morde und mindestens 100000 Gewalttaten gesehen. Daß das im Gehirn tiefe und dauerhafte Spuren hinterläßt und die Bereitschaft, aggressiv und gewalttätig zu reagieren, beträchtlich verstärkt, wird nach Spitzer heute nur noch von käuflichen Wissenschaftlern geleugnet. Weitaus am gefährlichsten für Kinder und Jugendliche seien jedoch laut Spitzer brutale Zeichentrickfilme, Szenen realer Gewalt in Nachrichten- und Dokumentarsendungen – und Ego-Shooter-Spiele. Bei diesen Spielen werde Gewalt nicht mehr nur passiv beobachtet, sondern aus der Ich-Perspektive erlebt und aktiv ausgeübt. Dabei würden Gewalthandlungen eingeübt. Außerdem komme es zu einer Identifikation mit dem Aggressor.
Die US-Armee bringt übrigens mit America’s Army ihr eigenes Ego-Shooter-Spiel seit August 2002 kostenlos übers Internet unter die Leute. Wer an dem Spiel teilnimmt, in dem die Grundausbildung und Gefechte simuliert werden, ist in eine Falle getappt. Die Armee speichert die E-Mail-Adressen aller Spieler, und wer sich beim Spiel einigermaßen geschickt anstellt, wird prompt für den Militärdienst angeworben.
Spitzers Erklärungen sind zwar monokausal, stützen sich aber auf zahlreiche empirische Befunde und den jüngsten Erkenntnisstand der Hirnforschung. Eines der provokativsten Bücher der letzten Zeit. Und ein großer Wurf.
Manfred Spitzer: Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft, Ernst Klett Verlag Stuttgart – Düsseldorf – Leipzig 2005, 303 Seiten, 16,50 Euro
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