Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 20. Februar 2006, Heft 4

Doppelexistenz

von André Hagel

Meine Großmutter hat kürzlich im Iran einen Mullah erledigt. Meine Großtante, die sich zufällig zum selben Zeitpunkt dort aufhielt, hat eine iranische Atomanlage lahmgelegt. Mein Onkel spioniert gerade in Nordkorea die maroden Privattoiletten der nicht minder maroden Führungselite aus. Und ich tummele mich in Syrien, um auszukundschaften, welchem Schurken man dort bei Gelegenheit eine Bombe aufs Haupt leiten könnte. Meine Sippe und ich führen ein spannendes, aufregendes Leben. Voller Gefahren, Abenteuer und Nervenkitzel. Bloß: Wir wissen gar nichts davon.
Neulich haben wir es aus der Zeitung erfahren. »BND versorgt Mossad mit deutschen Pässen«, lautete die Schlagzeile zu einem Bericht, der sich darum drehte, daß der Bundesnachrichtendienst – den man ja ebenfalls nicht nur in Pullach und Berlin antrifft, sondern überall dort, wo es in Kürze knallt – dem israelischen Geheimdienst Identitäten von Bundesbürgern vertickt. Oder kameradschaftlich überläßt. Denn ob für solche geheimen Identitätstransfers im Gegenzug Geld fließt, stand nun nicht explizit in jenem Artikel.
In praxi sieht das so aus, daß der BND Auslandsagenten des Mossads mit deutschen Personalpapieren ausstattet, um ihnen mit diesen Dokumenten die Legendenbildung zu ermöglichen. Ohne eine solche ist bekanntlich ein Agentenleben nur halb so lustig. Und dazu in aller Regel recht kurz. Stellen Sie sich vor, ein Agent betritt das Herz einer feindlichen Macht, zückt seinen Dienstausweis und fragt höflich, wo der rote Knopf zu finden sei? Da lacht sich der Feind tot und befördert den Besucher gleich in denselben Endzustand.
Ein ehemaliger leitender Mitarbeiter des BND – zwar Geheimdienstler, aber deshalb noch lange nicht geheimniskrämerisch – hat den Deal unter Schlapphüten auch gleich zugegeben. »Die Papiere seien Duplikate von Deutschen, die mit großer Wahrscheinlichkeit nie ihre Heimat verlassen werden und von der ›Zweitverwertung ihrer Identität keine Kenntnis‹ haben«, las ich der Frau meines Lebens am Frühstückstisch aus der Zeitung vor. Diese Zweitverwertung, hieß es weiter, falle gar nicht auf, so lange die Betroffenen – O-Ton Ex-BND-Mann – »Kerneuropa nie verlassen«.
»Damit sind wir gemeint!« rief ich aus, und der Frau meines Lebens fiel vor lauter Aufregung über das Identitätsrecycling ihre untere Mohnbrötchenhälfte aus der Hand.
Tatsächlich bin ich nie weiter als bis nach Norditalien und Spanien gekommen. Meine Oma kennt sich touristisch hauptsächlich in Garmisch-Partenkirchen aus. Manchmal fährt sie mit meiner Großtante auch nach Mecklenburg. Mein Onkel schaut sich höchstens mal in Dortmund Fußballspiele mit Borussia an. Wer, wenn nicht wir, käme als idealer Lieferant einer zweitzuverwertenden Identität zum Zweck der Legendenbildung in Frage?
Meinen Verwandten ist das ganze Geschiebe ihrer Identitäten von hier nach dort relativ egal. »Solange die mit meiner Identität keinen Unsinn anstellen …«, kommentierte meine Oma lapidar, als ich sie am Telefon darüber informierte, daß ihr israelisches Daten-Double wahrscheinlich gerade durch Teheran schleiche.
Ich allerdings würde schon gerne einmal meinen biographischen Doppelgänger vom Mossad kennenlernen. Vielleicht können wir uns ja mal zum Tee in einer konspirativen Wohnung treffen. Dann kann er mir davon berichten, was ich so alles erlebt habe.