von Max Hagebök
Zehn Gebote sollst du haben und versuchen, sie zu achten. So verschwor ich mich als junger Pionier drauf, alten Frauen über die Straße zu helfen und mir täglich die Zähne zu putzen. Beides gelingt mir heute noch. Dabei gehören die älteren Damen unterdessen zu meiner Altersgruppe. Den zehn Geboten der Kirche stand ich materialistisch gegenüber. Besonders die Geschichte mit der Begierde nach der anderen Frau schien mir recht schwierig zu sein. Ich habe es also nicht versucht. Deshalb war ich für die Kirchen verloren. Unterm Strich blieb, daß ich den moralischen Ansprüchen aller Ideologien und Religionen mannhaft widerstand. Ich schummelte mich fröhlich saufend und begehrend durch das Leben. Mir fehlte es eigentlich an nichts. Dachte ich jedenfalls.
Bis zu dem Tag, als der neue Vorsitzende der altdeutschen Sozialdemokratie mich nachdenklich stimmte. Wieder einmal hatte ich eine BILD-Zeitung auf der Straße gefunden, nicht wissend, welches aufrüttelndes Manifest mich erwartete. Vereint mit der Geburtstagsfeier für den Gubener Pieck schrieb der pragmatische Philosoph Platzeck dem Volk ins Stammbuch, was er vom selbigen erwartet.
Das Stoßgebet ist betitelt mit Wir brauchen mehr preußische Tugenden! Welch ein Ausrufezeichen. Bis in die Gräber der Millionen Toten dieser wunderbaren Tugenden hallte der preußische Marsch der Kriege. Natürlich hat dies keiner so gemeint. Es beriefen sich der Vorsitzende und seine Medien auf die guten Manieren eines Bismarcks, eines Friedrichs des Großen und vieler anderer Humanisten dieser preußischen Geschichte. Seinen möglichen Kritikern rief er entgegen: Auch »wenn es für manchen altmodisch klingt: bewährte Grundeigenschaften wie Anständigkeit, Verläßlichkeit und Pflichterfüllung sollten in Deutschland wieder mehr Einzug halten«. Damit es jeder versteht, listete die Redaktion die preußischen Tugenden auf: Anstand, Verläßlichkeit, Pflichterfüllung, Sparsamkeit, Disziplin, Pünktlichkeit, Bildung, Toleranz, Fleiß und Mut.
Natürlich wurde ich angeregt, mich an diesen Werten zu messen. Von den zehn möglichen Punkten erreichte ich die volle Punktzahl. Leider stand nicht in dem Artikel, was ich gewinnen kann, wenn ich diese vollkommene preußische Persönlichkeit bin. Dies verwirrte mich, und ich ging erst einmal einkaufen. Bei ALDI traf ich eine aufgeregte Menschenmenge. Die ortsansässigen Hartz-IV-Empfänger lasen in unterschiedlichen Rollen den Text aus der BILD vor. Danach stimmten sie durch einfaches Heben der Bierflasche darüber ab, wer sich zu den Platzeck-Tugenden bekenne. Bei den ersten neun Geboten erreichten sie die einhundert Prozent. Bei der letzten Tugend, dem Mut, waren es nur noch neunzig Prozent; der Diplomingenieur Schmidt war eingeschlafen. Keiner hatte aber Lust, ihn zu wecken, denn so blieb ein Bier im Karton und konnte neu vergeben werden.
Leider blieb mir keine Zeit, diesen demokratischen Diskurs weiter zu verfolgen, da mich der Anruf meines Beraters von der Agentur für Arbeit erreichte. Ich trage seit einiger Zeit eine Manschette am linken Arm, die mich durch leichte Stromstöße daran erinnert, meine Bemühungen am Arbeitsmarkt mit denen meines Bearbeiters zu koordinieren. Ich eilte also zum Amt. Herr Schulz erkannte mich sofort. Und mir wurde klar, daß er von den Tugenden erleuchtet sein müsse. Denn trotz meines Doktortitels behandelt er mich anständig. Er toleriert meine etwas abwegigen Wünsche nach einer Arbeit, und verläßlich erklärt er mir pünktlich, daß ich keine Chance habe. Dabei verwendet er sehr sparsam seine soziale Kompetenz und verhindert diszipliniert jede Form des modischen Sozialmanagements. Gebildet setzt er mir auseinander, daß ich aus einer Diktatur käme und deshalb über die Freiheit froh sein solle. Sage ich aber einmal etwas gegen diese Freiheit, dann unterbricht er mich mutig, und ich bekomme meine Stütze gekürzt. Da er für mich nur drei Minuten braucht, scheint er fleißig sein zu müssen.
Vor der Tür wurde ich mir immer sicherer: Mit meiner tugendhaften Selbsteinschätzung muß ich voll danebenliegen; dem neuen Menschen des Genossen Platzeck kann ich gar nicht entsprechen. Denn wer den Tugenden entspricht, bestimmt letztlich der, der sie postuliert.
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