von Peter Braune
Bisher wußte ich ziemlich genau, wer ich bin: ein unauffälliger, bisher nicht mit Ehren versehener, dennoch ergrauter Durchschnittsberliner, immer auf der Suche nach Sauereien, die besonders mir, manchmal auch anderen, angetan werden, um sie dann nörgelnd darzulegen. Gelegentliche Hinweise von Freunden und Bekannten: »Du bist ein Spötter, ein maßloser Kritiker und nie zufriedenzustellen«, nagten schwer an meiner Seele. Warum in aller Welt kann ich nicht jubeln, wenn beispielsweise in dieser meiner Stadt lange Nächte des Shoppings ausgerufen werden? Superlativ häuft sich doch auf Superlativ: Der 35. Kältebus für Obdachlose wurde feierlich vom Bischof und vom Bürgermeister geweiht! Berlin hat die größten Grundschulklassen! Das sind Spitzenwerte. Doch mich haben diese Werte bis zum 26. September vorigen Jahres irgendwie gewurmt.
Von diesem Tage an begann aber in mir ein schleichender Umdenkungsprozeß. Mir ist so, als ob mein Hirn täglich neu gewaschen würde. Denn genau um 19 Uhr 56 wurde nach einer Presseerklärung der Bundesregierung, die ich mir schon drei Tage zuvor im Internet heruntergeladen hatte, mit der Aktion Du bist Deutschland die größte Social Marketing Kampagne in der Mediengeschichte der Bundesrepublik zugleich von den TV-Sendern ARD, ZDF, SAT1, ProSieben, Kabel1, RTL, RTL 2, VOX, Super RTL sowie allen Premiere-Spielfilmkanälen gestartet. Leider konnte ich nicht so schnell hin und her zappen, um mich vom Wahrheitsgehalt zu überzeugen. Aber soviel steht auf jeden Fall fest: Unentgeltlich stellten dafür 25 führende deutsche Medienunternehmen ein Mediavolumen in Höhe von mehr als dreißig Millionen Euro zur Verfügung.
Dr. Bernd Kudrun, Vorsitzender des Vorstandes des Verlagshauses Gruner+Jahr, zielte bei der Pressekonferenz mit dem ausgestreckten Zeigefinger direkt auf mich: »Deutschland wird schlecht geredet!« Dr. Peter Frey, Leiter eines öffentlich-rechtlichen Hauptstadtbüros, setzte nach: »Wir wollen die Menschen motivieren, ihr Selbstbewußtsein stärken und jeden einzelnen daran erinnern, daß sein Beitrag für dieses Land wichtig ist.« Ich bin ein so ein einzelner, Herr Dr. Frey, und bekenne hier erstmals, daß ich vor fünfzig Jahren meinen Briefroman Peters durchstandene Leiden über den Zusammenbruch meiner ersten Liebschaft mit meiner Tanzschulpartnerin Heidi B. erst Seite für Seite durchgestrichen, dann zerrissen und am Ende alle 570 Blatt unter Trümmern der Kriegsakademie begraben habe, dort, wo heute der Teufelsberg über den Grunewald hinausragt. Wenn ich damals gewußt hätte, daß es eigentlich Johann Wolfgang von Goethe war, der da aus mir heraus schrieb, hätte ich dieses Werk als glücklicher verlaufene Version von Werthers Leiden nicht so aus einer dummen Laune heraus mir, also Deutschland, entzogen. Um dieses Manuskript als Beitrag zur deutschen Literatur zu retten, bitte ich den verehrten Herrn Dr. Kudrun und den geehrten Herrn Dr. Frey samt ihren Sponsoren von den dreißig Millionen eine Summe abzuzweigen, damit eine Bohrfirma den Schatz von 570 Seiten aus 82 Metern Tiefe heben kann, bevor das Papier endgültig zerfällt.
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