Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 9. Januar 2006, Heft 1

Wunderliches 2006

von Max Hagebök

Frank Zappa ließ die Gitarre sprechen. Ein typischer Dezembersommertag mit Regen und Sturm ging langsam in die Geschichte ein. Gegenüber hatten sie schon alle Lichter der Weihnachtsdekoration angedreht, und die Musik gehörte nicht zu dieser Welt. Who needs the peace corps?
Da saß ich mit meinem Teller Plätzchen und einem Drei-Finger-Whisky fröstelnd im Warmen und dachte an das nächste Jahr. Wie an einen fernen Verwandten, der sich zu Besuch angekündigt hat. Beunruhigt überdachte ich die letzten Treffen und versuchte zu erahnen, weshalb er diesmal kam.
Ich zermarterte mir den Kopf über den Sinn der Jahresfolgen. Was hatten wir davon, das Millennium zu feiern? Völlig sinnlos lagen sich alle besonders freudetrunken in den Armen, um es schon fünf Jahre später vergessen zu haben. Das einzige, was festzustellen war: Wir freuen uns über die vergangene Zeit. Da verschwindet Lebenszeit in Abfluß astronomischer Gezeiten, und der Mensch lächelt glücklich. Möglicherweise feiern wir das Überleben.
Mit jedem gelebten Jahr rückt der Gedanke an die Abgründe dieses Lebens näher. Da ist ein Tag im Jahr, um sich an die eigene Lebendigkeit zu erinnern, ein guter Grund zu trinken und Fremde zu küssen. Bei diesem Anlaß werden die immer gleichen Wünsche geäußert – verwirklicht werden sie meistens nie. Diesmal machte ich nicht mit. Ich wurde ein Silvesterverweigerer. Für diesen einen Tag verließ ich die Zeitschleife.
Der Neujahrstag empfing mich verdammt gut ausgeschlafen, und meine Gedanken zu 2006 wurzelten tief in mir. Der Kalender der politischen Ereignisse mutiert zu einem Einkaufszettel im Supermarkt der verletzten Seelen. In den Regalen liegen gut abgehangen die Lebensläufe der Opfer einer politischen Klasse, deren vornehmster Zweck das eigene Spiel ist. Die Würfler unseres Lebens werden auch in diesem Jahr nicht müßig werden, uns das, was sie uns antun, als alternativlos zu postulieren.
Womit ich bei meinem ersten Kalenderblatt bin. Die von Angela Merkel angepriesene Schicksalsgemeinschaft ist eine gemeinschaftliche Verkommenheit aus Politik und Medien. Der letzte kritische Geist wird in die Flasche Ohne Alternative gestopft. Anschließend feiern Satan und Luzifer schizoide Feste. Ihre Klagelieder über das unmögliche Verändern brechen sich an den Mauern der Arbeitsämter. Verschonen werden sie niemanden.
Jetzt der fließende Übergang zu Kalenderblatt zwei: Die gesichtlosen Profiteure dieser Politik der Untoten werden auswechselbar. Spätestens nach diesem Jahr werden die Opfer nicht mehr wissen, in wessen Auftrag die Merkel oder der Platzeck agieren. Beide verkörpern die Macht der Mechanismen und nicht die Herrschaft der Inhalte. Geklonte Geschöpfe des linearen Weltenlaufs sind sie, und sie werden mit zärtlichen Worten töten. Keine Menschen – die kommen später dran, wenn Deutschland internationale Pflichten erledigt – nein, zuerst meucheln sie die Reste der Kultur.
Harter Schnitt, ein Riß, das Kalenderblatt drei. Ob Malerei, Musik, Film oder Buch, den Konflikt mit dem Verwaltungsschiff menschlicher Seelen sucht niemand. Triefende Spiegeleien persönlichen Befindens liegen auf dem Abtritt vor dem Leben. Es wird eine Flut künstlicher Werke geschaffen, die in der Auslage Ohne Titel gelistet werden.
So blätterte ich mit meinem Daumenkino die Kalenderseiten und grüble über den tieferen Sinn der selbigen. Auf keinem Blatt verweilte die Hoffnung. Nur in den Aufgängen des Mondes und der Sonne erkannte ich liebgewordene Kontinuität. Da wird nicht gemogelt. Nur die Zeitangabe haben wir schon der Natur entrissen. Unsere Sommerzeit betrügt zwar nicht die Natur, aber den Menschen. Ein menschliches Produkt – diese Zeit, wenn sie in Stunden und Minuten gefaßt und deshalb zu einer Lüge wird. Denn die Zeit ist unser Werden und der Verfall unseres Körpers. Völlig losgelöst von Definitionen und dem daraus gewebten Anzug. Deshalb schenkte ich mir einen Vier-Finger-Whisky ein, dankte meinen Freunden und hörte Zappa singen More trouble every day.