von Kai Agthe
Wer Krakau gesehen und erlebt hat, wird sich der europäischen Kulturhauptstadt des Jahres 2000 stets in Liebe erinnern. Diese Zuneigung hält bei mir seit drei Jahren an: Im Juli 2002 sah ich die alte polnische Königsstadt zum ersten Mal während einer Tagung von thüringischen und Krakauer Autoren. Nur drei Wochen zuvor – so war es in Kazimierz Local Quartely zu lesen –, hatte Prinz Charles Krakau besucht. Die Zeitung titelte damals sehr selbstbewußt: »A Royal Visit to a Royal Town«. Ein Foto zeigte den Prince of Wales, in Gedanken versunken, auf dem alten jüdischen Friedhof von Kazimierz. Unser Aufenthalt in der königlichen Stadt – der zu kurz war, als daß man über das Staunen und das Sammeln von Eindrücken hätte hinausgekommen können – stand mir in all seinen Facetten wieder lebhaft vor Augen, als ich Marta Kijowskas Krakau – Spaziergang durch eine Dichterstadt las. Ein Buch, das einen Weg durch einhundertfünfzig Jahre lokaler Literatur- und Kulturgeschichte beschreibt: Beginnend mit dem Goethe Polens, Adam Mickiewicz – der hier 1890, als seine sterblichen Überreste aus Konstantinopel überführt wurden, seine letzte Ruhe fand –, bis hin zu den Nobelpreisträgern für Literatur Czeslaw Milosz, Wislawa Szymborska und Slawomir Mrozek.
Doch auch die Stationen, die dazwischen liegen, läßt sich der Leser von Marta Kijowska gern zeigen. Stanislaw Przybyszewski wird als einer der wichtigsten Schriftsteller im Krakau um 1900 vorgestellt. Er, den man lange vor Ozzy Osborne als Fürsten der Dunkelheit bezeichnete, blieb in Polen das, was er zuvor in Berlin – wo er zum Kreis jener Autoren gehörte, der sich im Restaurant Zum schwarzen Ferkel traf – gewesen war: ein Enfant terrible. Auch der an seiner Zeit und an sich selbst zerbrochene Georg Trakl wird erwähnt. Ein durch Drogen und Kriegsdienst psychisch zerrütteter Dichter, der 1914 im Krakauer Garnisonsspital den Tod in einer Überdosis Kokain suchte. (Um das Phänomen Trakl fassen zu können, lese man Franz Fühmanns Essay-Porträt Vor Feuerschlünden.)
Seit der Verfilmung des Buches Schindlers Liste durch Steven Spielberg werden in Krakau Stadtführungen angeboten, bei denen die einstigen Drehorte aufgesucht werden. Die liegen vor allem im ehemaligen jüdischen Stadtteil Kazimierz. Jeder, der daselbst die beiden Friedhöfe, die »guten Orte«, der Krakauer Juden besichtigt hat, wird erahnen können, welch reiche Kultur hier einst zu Hause war – bis die Nazi-Besatzer die jüdische Bevölkerung fast vollständig auslöschten: Von 70000 Krakauer Juden überlebten nur 6000. Auschwitz, die Stätte deutscher Verbrechen, ist nur eine Autostunde von der polnischen Kulturstadt entfernt. Die im Ghetto internierten Juden, darunter der junge Roman Polanski, wurden auch in das Vernichtungslager Belzec und in das Arbeitslager Plaszow, dem der spätestens durch Schindlers Liste berühmt-berüchtigt gewordene SS-Kommandant Amon Göth vorstand, deportiert.
Untrennbar mit diesen Greuel verbunden ist der Name Hans Frank. Der auf dem Wawel residierende »Generalgouverneur«, der sich selbst in der Rolle des Königs von Krakau gefiel, ließ nicht nur alle denkbaren Kostbarkeiten in seinem Herrschaftsbereich beschlagnahmen, sondern ging auch gegen die »Verjudung« der Wissenschaften vor, in dem er die Alma mater Cracovia im Namen des Astronomen Nikolaus Kopernikus zur deutschen Universität erklärte.
Marta Kijowska erinnert auch an die vom polnischen Staat gelenkte und selbst im liberalen Krakau Auswüchse treibende »größte antisemitische Hetzkampagne der Nachkriegszeit«, in zwischen 1967 und 1969 rund 13000 bis 20000 der nach 1945 im Land verbliebenen Juden nach Israel, in die USA und nach Westeuropa emigrierten; 200 allein aus Krakau.
Der kurzweilige Spaziergang durch die Literatur- und Kulturgeschichte Krakaus, auf den uns Marta Kijowska mitnimmt, ist auch eine gehaltvolle Ergänzung zu Karl Schlögels Buch Marjampole – Die Wiederkehr Europas aus dem Geist der Städte (München 2005), in dem der Historiker und Essayist mit Czernowitz, Marjampole, Nishnij Nowgorod und Oradea ähnlich aufstrebende Städte Osteuropas porträtiert wie Marta Kijowska mit Krakau, wo die heute in München lebende Autorin und Übersetzerin vor genau fünfzig Jahren geboren wurde.
Wenn ich es recht bedenke, dann ist meine Zuneigung zu Krakau doch älter als drei Jahre. Zu verorten ist die erste Begegnung mit der Stadt in meiner Kindheit, und zwar als virtuelle: Der Film Der Saffianschuh – in dem die Geschichte eines Schuhs erzählt wird, den man seinerzeit bei Restaurierungsarbeiten hinter dem weltberühmten Altar von Veit Stoß in der Krakauer Marienkirche fand – war eines meiner frühen Fernseherlebnisse. Das war, wie ich heute sagen kann, eine Form jener wichtigen Welterfahrung, die armchair travelling heißt.
Marta Kijowska: Krakau – Spaziergang durch eine Dichterstadt. Deutscher Taschenbuch Verlag München 2005, 237 Seiten, 15 Euro
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