Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 19. Dezember 2005, Heft 26

Körperhafte Konstruktionen

von Klaus Hammer

Die Aufnahmen des Düsseldorfer Fotografen-Ehepaares Becher illustrieren weder die Entwicklung der modernen Industriearchitektur, noch orientieren sie sich an den großen Leistungen der Pioniere des funktionalen Bauens. Ihr Interesse gilt seit mehr als vierzig Jahren der mehr oder weniger banalen Nutzarchitektur: den Hochöfen, Kühltürmen, Kohlesilos, Gasbehältern, Wassertürmen, Fabrikhallen oder Fördertürmen, die heute meist außer Funktion sind. Und so stehen sie als erbarmungswürdige Rudimente einer Zeit des industriellen Aufschwungs in der Landschaft. Sie sind dem Verfall, der Zerstörung und dem Abriß preisgegeben und scheinen ein merkwürdiges Eigenleben zu führen. In ihrer körperhaften Konstruktion muten sie wie »abstrakte Skulpturen« an, die zu uns sprechen wollen.
Da die Bechers sie in den unterschiedlichsten Orten und Ländern, in Europa und Nordamerika fotografiert und zu ganzen Serien zusammengestellt haben, bilden sie eine Schule des vergleichenden Sehens, der differenzierten Wahrnehmung, unlösbar verbunden mit dem Raum und den Bedingungen, unter denen sie entstanden sind. Der Hamburger Bahnhof, das Museum für Gegenwart in Berlin, ist die letzte Station einer großen Retrospektive, in der die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen das einzigartige Tafelwerk der Bechers bereits in Düsseldorf, München, Paris und Madrid vorgestellt hat. Diese Zeugnisse unserer industriellen und technischen Zivilisation sind damals nicht nach ästhetischen Gesichtspunkten konstruiert worden. Ihr Funktionswert spiegelt sich in ihrer äußeren Form.
Der Blick der beiden international renommierten Fotografen auf diese Industriedenkmäler ist frontal, es geht ihnen um das solitäre Relikt, das Objekt der Darstellung. Subjektive Faktoren werden so weit wie möglich ausgeschlossen. Und mit diesem Verfahren erstellen die Bechers ganze Bildreihen und -gruppen, in denen ein Architekturtypus in seinen unterschiedlichen Ansichten oder in seinen formalen Varianten gesammelt und archiviert ist. Die Bauten entfalten so ein Doppelleben: Einerseits erscheinen sie so banal, wie sie sind. Andererseits sind diese Fossile einer vergangenen Zeit in ihrer linearen wie grafischen Struktur zugleich Artefakte, die intensiv miteinander verglichen werden müssen.
Die Bildfolgen können unter immer wieder anderen Aspekten aufgelöst und wieder neu zusammengestellt werden. Es ist egal, ob es nun um formale Unterschiede ein und desselben Typus geht. So können die Schwarz-Weiß-Fotoserien als Rohmaterial für eine rein konzeptuelle Auffassung von Kunst begriffen werden, als Matrizen rein grafischer Strukturen, deren serieller Charakter und tableauartige Anordnung an der Wand den eigentlichen Reiz und das ästhetische Interesse der Arbeit der Bechers ausmachen. »Typologie industrieller Bauten« – so brachten die Bechers ihr Tun auf den Begriff. Denn erst in der Distanz können die Dinge nah gesehen werden.
Die Objekte, die sich durch ihre scheinbare Ähnlichkeit kaum unterscheiden, sind erst im direkten Vergleich in ihrem Anderssein zu erkennen. Weniger wichtig als das einzelne Objekt ist der Unterschied zum nächsten. Gerade das Individuelle soll in der Differenzierung zum Typischen deutlich werden – und so das Singuläre hervorheben. Industriedokumentation und Kunstprodukt gehen so ineinander über. Der Kunstcharakter der Industrieobjekte erweist sich als Skulptur, und die funktional und ästhetisch wichtige »anonyme Skulptur« beziehungsweise »Architektur« hat gleicherweise ihre Bedeutung im wirtschafts- und technikwissenschaftlichen Bereich. »Die Idee ist, Familien von Objekten zu schaffen«, so Bernd Becher, der als Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie bis 1996 eine Klasse für künstlerische Fotografie geleitet hat. Er spricht von einer »Vermenschlichung« der Objekte, die den Dingen auf Grund der Funktionsveränderungen geschähen.
Wie ein Lebewesen entstehen diese technischen Bauten, verändern sich im Laufe der Jahre, verfallen dann in kürzester Zeit und verschwinden ebenso plötzlich. Bis auf 24 Beispiele haben die Bechers ihre Typologien ausgeweitet, doch meist bilden 15 Teile ein Ganzes, und seit länger Zeit werden diese dann auch einzeln gerahmt. Diese Tafeln erwarten den unverbrauchten Blick des Neugierigen, der zwar Distanz zum Geschehen hat, aber nah genug heran will – ganz gleich, ob ihn nun ein technisches oder künstlerisches Interesse oder einfach nur eine nostalgische Stimmung motiviert.

Museum für Fotografie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, Invalidenstraße 50-51, dienstags bis freitags 10 bis 18 Uhr, samstags 11 bis 20 Uhr, sonntags 11 bis 18 Uhr, bis 8. Januar 2006, Katalog 30 Euro