von Uli Brockmeyer
Rund drei Kilogramm bringen die Erinnerungen von Helmut Kohl auf die Waage. Damit entfällt das Werk als Lektüre zum Einschlafen, denn wer nimmt schon ein derartig schweres Buch mit ins Bett? Andererseits ist das gar nichts gegenüber dem Lebendgewicht des Autors – und eine zu negierende Kleinigkeit im Vergleich zu dem Gewicht, das Kohl sich selbst in der Geschichte beimißt.
Dabei könnte es eigentlich ein Glücksfall sein, wenn ein promovierter Historiker und Ex-Politiker die Möglichkeit bekommt, ein politisch-historisches Nachschlagewerk zu verfassen. Als solches hat es der Autor gemeint, und aus diesem Grund sind seine Erinnerungen auch im zweiten Band schön übersichtlich geordnet und mit einem ausführlichen Register versehen. Ein Quellenverzeichnis braucht es jedoch nicht, denn die Quelle ist er selbst, der Kanzler der Einheit.
Bei einer der zahlreichen Talkshows zur Präsentation seines Werkes sprach Kohl von seiner Vision, daß eines Tages – wenn all die Ungläubigen, die heute immer noch seine historische Leistung in Zweifel ziehen, nicht mehr unter uns weilen –, Studenten und Wissenschaftler vor einem Regal in der Bibliothek ein Treppchen aufstellen, um sein Buch aus dem Regal zu ziehen, wenn sie die wahrhaftige Wahrheit über die historischen Abläufe in den achtziger und neunziger Jahren herausfinden wollen. Er ist sich felsenfest sicher, daß einzig seine Interpretation der »historischen Wahrheit« vor der Geschichte Bestand haben wird.
Helmut Kohl ist erneut äußerst akribisch vorgegangen. Er weiß um die Bedeutung der Jahre 1982 bis 1990, denn er verwendet für den Zeitraum seiner ersten beiden Kanzlerschaften fast doppelt so viele Seiten wie für seinen ersten Lebensabschnitt. In dieser Zeit ist aber auch wirklich viel geschehen, und das können wir nun mit den Augen des Altkanzlers betrachten. Allein das lohnt die Anschaffung des Buches.
Kohl ist ein Ich-Erzähler, der gern sich selbst, das heißt aus seinen Reden zitiert; an manchen Stellen haben seine Schilderungen schier monarchische Züge. Wenn auch zuweilen die Namen seiner engsten Vertrauten genannt werden (allen voran seine Frau Hannelore), so scheint doch er selbst alle wichtigen Entscheidungen allein getroffen zu haben. Der Begriff Personenkult wird heutzutage häufig mißbraucht oder mißverständlich angewendet. Im vorliegenden Fall geht die Tendenz eindeutig in diese Richtung, denn kaum etwas kommt auf den über tausend Seiten so häufig vor wie das Wörtchen »ich«.
Auffallend ist auch im zweiten Teil von Kohls Erzählungen der ständige Bezug auf Adenauer (Platz drei in den Register-Charts), der allerdings in dem vom Autor behandelten Abschnitt schon lange das Zeitliche gesegnet hatte. Er braucht allerdings den alten Herrn aus Rhöndorf, um immer wieder nachweisen zu können, daß er und seine Partei selbstverständlich das hohe Ziel der deutschen Wiedervereinigung niemals aus den Augen verloren hatten – ganz im Gegensatz zu den verräterischen Sozis. Vielleicht lesen sich deshalb auch gerade die Schilderungen um den 9. November 1989 besonders spannend. An jenem Abend, als ein gewisser Schabowski in großkotziger Manier fast nebenbei den Fall der Mauer verkündete, befand sich der Kanzler auf Staatsbesuch in Polen. Dort verfügte er nach Gutsherrenart, daß der polnische Präsident gefälligst nicht auf ihn warten solle, machte sich auf den beschwerlichen Flug über Schweden nach Hamburg, wo ihm der alte CIA-Drahtzieher Vernon Walters, der gerade einen Job als US-Botschafter ausfüllte, eine Militärmaschine nach Westberlin bereitstellte. Wie wir wissen, kam er am 10. November gerade noch zur rechten Zeit, um den SPD-Leuten um Momper nicht die ganze Show zu überlassen. Allerdings störte ihn dabei der »linke Pöbel«, der sich auf dem Platz versammelt hatte und ihn kräftig auspfiff. Kaum ein persönliches Gefühl kommt in dem gesamten Werk so stark zum Ausdruck wie die abgrundtiefe Abscheu vor jenen Leuten, die nicht verstehen wollten, wie wichtig die deutsche Einheit für ihn war. Bezeichnend sind in diesem Abschnitt Sätze wie: »Die Deutschen fühlten sich trotz vierzigjähriger Trennung nach wie vor als ein Volk.« »Am allerschlimmsten war für mich, daß das auf der Balustrade gemeinsam angestimmte Deutschlandlied in einem gewaltigen Pfeifkonzert unterging.«
Nicht überraschend ist auch, wie wenig ihn all die Ereignisse anfechten, die ihm selbst in ihm wohlwollenden Medien eine gewisse Kritik eingebrachten. Selbstverständlich können wir nachlesen, daß es absolut richtig war, gemeinsam mit Ronald Reagan auf einen Soldatenfriedhof zu marschieren, auf dem auch SS-Leute ihre ewige Ruhe gefunden hatten – trotz der »zum Teil unerträglichen kollektiven Beschuldigungen« und »mancher bewusster Geschichtsfälschung«.
Auf seinem Weg zur Unfehlbarkeit störten ihn allerdings auch einige Leute – wie zum Beispiel Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler, Franz-Josef Strauß oder Margaret Thatcher. Es sind wohl die interessantesten Stellen, wenn ER schildert, wie ER sich dieser Leute und der von ihnen in den Weg gelegten Stolpersteine entledigte. Angela Merkel spielt in diesem Buch noch keine Rolle.
Warten wir also auf Band 3. In dem Kohl, wie er angekündigt hat, auch die Wahrheit über den leidigen Spendenskandal auspacken will – natürlich ohne die Namen der Spender zu nennen.
Man kann dieses Buch unmöglich mit einem Satz beschreiben. Aber vielleicht paßt hier ein Zitat des früheren CDU-Generals Heiner Geißler, das selbstverständlich nicht (!) auf seinen ehemaligen Chef gemünzt war, uns aber dennoch tröstet: »Die Berühmtheit manches Zeitgenossen ist unmittelbar mit der Dummheit seiner Bewunderer verbunden.«
Helmut Kohl: Erinnerungen 1982-1990, Droemer Verlag München, 1136 Seiten, 29,90 Euro
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