von Olaf Thomsen
Das ist das Geheimnis des Jazz:
Der Bass bricht dem erstarrten Orchester aus,
das Schlagzeug zertrommelt die geistlosen Lieder.
Das Klavier seziert den Kadaver Gehorsam.
Das Saxophon zersprengt die Fessel Partitur:
Bebt, Gelenke: wir spielen ein
neues Thema aus, wozu ich fähig
bin und wessen ich bedarf:
ich selbst zu sein …
Jeder spielt sein Bestes aus zum gemeinsamen
Thema. Das ist die Musik der Zukunft:
jeder ist ein Schöpfer …«
Volker Braun, Jazz
Jeder Jazzfan findet in seinen Lieblingsclubs die verschmitzt-kosmopolitische Atmosphäre, die den Jazz so unsterblich macht. Jazz hat tatsächlich etwas ausgesprochen Freundlich-Charmant-Verspieltes. Vielleicht kommt er durch seine immerwährende Rückbesinnung auf die Kunst der Improvisation dem Wesen der Musik am nächsten. Beispielsweise ist die Story eines »Klassikers« von Duke Ellington oder Louis Armstrong immer auch ein grandioses Mosaik aus unterschiedlichsten Interpreten, Instrumentationen, Zeitgeschmäckern. Es bedarf schon eines erheblichen Überblicks, einen solchen Stammbaum, wenn auch nur für einige Jahrzehnte, nachzuzeichnen.
Josh Sellhorn, geboren 1930 in Hamburg, ist ein sehr guter Kenner der deutschen Jazzszene seit dem Zweiten Weltkrieg und ein Kompendium an Geschichten um die Leute, Gruppen und Gruppierungen. Sein umfangreiches Privatarchiv ist eine wahre Fundgrube für Jazz-Liebhaber. Er ist dafür bekannt, daß man ihn fragen kann zu einer wie auch immer gearteten Verästelung des Jazz und Jazzbetriebes. Vielleicht hat ihm bei seinem Blick auf die Musikwelt auch sein Studium von Geschichte und Philosophie geholfen. Jedenfalls war er in der DDR seit 1957 ein nimmermüder Organisator von Jazzveranstaltungen. Er initiierte 1963 im Auftrag des Verlages Volk und Welt die Veranstaltungsreihe Jazz und Lyrik mit phänomenaler Resonanz beim Publikum – nicht nur bei Jazzliebhabern, die danach aber mit Sicherheit dazu geworden sind. Viele sind damals zum Jazz gegangen, weil er offiziell nicht geliebt war. Die Zusammenfassung der beiden AMIGA-Scheiben von diesen Kultveranstaltungen auf CD (BMG/AMIGA) wurden offenbar selbst zum Kult und haben sich schon über hunderttausend Mal verkauft. Auch die Reihe hat überlebt, nun unter dem Titel Jazz Lyrik Prosa.
Es bedarf solcher Männer wie Sellhorn, die sich irgendwann einmal hinsetzen und über mehrere Jahre Dinge und Zusammenhänge notieren, an die sich sonst niemand mehr erinnern wird. Es bedarf eines Verlages wie neunplus1, der ein Unikat herausbringt, vor dem man sich verbeugen darf. JAZZ DDR FAKTEN hat nicht gerade einen erotischen Titel, aber er bezeichnet einen einzigartigen Rückblick eines ausgewiesenen Kenners auf ein abgeschlossenes und höchst interessantes Sammelgebiet.
Manfred Krug, der das Geleitwort schrieb, bemerkte bei der Vorstellung des Buches im Mai in Berlin: »Für die Tatsachen, die man belegen kann, muß man sich beeilen.« Romain Rolland sagte einmal, wenn sich das Individuum nicht mehr in der Gegenwart zurechtfindet, wende es sich in die Vergangenheit.
Stimmt. Aber nicht in diesem Fall. Die Stimmung bei der Buchpremiere war ganz und gar gegenwärtig, obwohl die einstigen Jazz-Aktivisten der DDR – was sonst? – etwas älter geworden sind. Ruth Hohmann, in der DDR-Jazzszene die Frau der ersten Stunde, sang I can’t give you anything but love«. Stimmt nicht. Die Frau und alle Jazz-Barden im Saal hatten schon immer mehr zu geben, auch international.
Werner »Josh« Sellhorn breitet in seinem Buch akribisch und nahezu komplett die zwischen 1945 und 1990 innerhalb und außerhalb der DDR auf Schellackplatten, Vinylplatten und CDs veröffentlichten Aufnahmen von Jazz in seiner stilistischen Vielfalt aus: traditioneller Jazz über Swing und Mainstream Jazz (bis hin zu jazzbeeinflußten Schlageraufnahmen), klassischer moderner Jazz (Bebop, Cool, Hardbop etcetera), Free Jazz und improvisierte Musik bis zur sogenannten Weltmusik, aber auch Vor- und Nebenformen des Jazz wie Blues (bis zu Beispielen bestimmter Blues-Rock-Titel), Gospels und Spirituals sowie jazzverwandte Folklore. Neben AMIGA-Veröffentlichungen (und denen anderer DDR-Labels wie Eterna oder Litera) bezieht er auch ausländische, BRD- und Westberliner Veröffentlichungen mit ein.
Die Diskographie gliedert sich in Jazz und Swing in der Nachkriegszeit auf AMIGA, Aufnahmen von DDR-Jazzmusikern in und außerhalb der DDR, Aufnahmen von Nicht-DDR-Musikern unter Beteiligung von DDR-Musikern, Aufnahmen von Nicht-DDR-Musikern, produziert in der DDR und Aufnahmen von Verbindungen aus Jazz und Literatur.
Das Buch enthält ein Verzeichnis der AMIGA-Import-Editionen, Personen- und Titelregister, einen Nachweis für die über zweihundert Fotos sowie eine CD Jazz – DDR – Kaleidoskop.
Schlag nach bei Sellhorn.
Werner Josh Sellhorn: JAZZ – DDR – Fakten. Interpreten, Diskographien, Fotos, neunplus1 Verlag Berlin (Edition Kunst), plus CD, 320 Seiten, 232 Abbildungen, 35,80 Euro
Schlagwörter: Jazz, Olaf Thomsen, Werner Josh Sellhorn