von Frank Ufen
Vor einigen Jahren ist der Mathematiker Tim Pennings auf ein erstaunliches Phänomen gestoßen. Eines Tages ließ er seinen Corgi Elvis am Strand des Lake Michigan Tennisbälle apportieren. Schließlich warf er einige Bälle schräg ins Wasser, und dabei beobachtete er etwas, das ihn stutzig machte. Anstatt direkt auf den Ball zuzusteuern, rannte Elvis zunächst eine ganze Weile am Strand entlang und sprang dann erst ins Wasser. Elvis scheint also genau zu wissen, daß der kürzeste Weg für ihn nicht der schnellste sein kann, da er schwimmend längst nicht so rasch vorankommt wie laufend. Später fand Pennings heraus, daß sich sein Hund instinktiv immer für die Strecke entscheidet, die ihn am wenigsten Zeit und Energie kostet. Die jeweils günstigste Strecke zu finden, ist allerdings nicht gerade einfach. Menschen benötigen dafür recht komplizierte Differentialgleichungen. Elvis führt die Berechnungen mit Hilfe eines Programms durch, das ihm die Evolution verpaßt hat. Wie er das macht, weiß allerdings kein Mensch. Doch Elvis beherrscht noch viel mehr Mathematik. Immer wenn er versucht, etwas im Flug zu fangen, berechnet er gleichzeitig, wo und wann das Objekt landen wird und welche Richtung er einschlagen muß, um es im richtigen Moment zu erwischen. Um sich das Rechnen zu erleichtern, wenden Hunde allerdings einen Trick an: Sie laufen in einem leichten Kreisbogen. Dadurch erscheint ihnen die Flugbahn des Objekts wie eine Gerade, und sie behalten es immer im Blick. Menschen machen es übrigens genauso. Ob man es will oder nicht – wenn man Handball, Volleyball oder Tennis spielt, bewegt man sich bogenförmig vorwärts.
Etliche Tierarten leben in einer Umwelt, die ihnen Aufgaben stellt, die hochspezialisierte mathematische Fähigkeiten erfordern. Zugvögel, Schmetterlinge, Wale, Meeresschildkröten und Langusten können Tausende von Kilometern zurücklegen, ohne die Orientierung zu verlieren, weil sie als Virtuosen in der Kunst der Trigonometrie nicht die geringsten Schwierigkeiten mit der Standort- und Kursbestimmung haben. Raben, Tauben, Ratten, Löwen, Delphine und viele Affenarten sind dazu imstande, kleine Mengen mit einem Blick zu erfassen, ihre Größenunterschiede zu erkennen und sie im Gedächtnis zu behalten. Und bei den Schimpansen ist der Sinn für Anzahlen derart hoch entwickelt, daß sie zählen, mit einfachen Additionsaufgaben zurechtkommen und sogar Brüche verstehen können. Und der Mensch? Auch er kommt mit mathematischen Instinkten auf die Welt. Säuglinge wissen schon um Alter von zwei Tagen intuitiv, daß eine Menge von zwei oder mehr Gegenständen etwas ganz anderes ist als ein einzelner Gegenstand.
Die meisten Menschen haben einen Horror vor der Mathematik. Doch was wäre, wenn ihr Überleben oder ihre berufliche Existenz davon abhingen, daß sie einigermaßen geschickt mit Zahlen umgehen können? Fast jeder, behauptet Keith Devlin, würde sich unter solchen Umständen das entsprechende geistige Rüstzeug früher oder später aneignen. Vieles deutet darauf hin, daß Devlin völlig recht hat.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veranstaltete der französische Psychologe Alfred Binet einen ungewöhnlichen Wettbewerb im Kopfrechnen. Zu den Teilnehmern gehörten zwei professionelle Rechenkünstler und vier Kassierer des Pariser Kaufhauses Bon Marché. Die Resultate widersprachen allen Erwartungen. So brauchte der beste der beiden Rechenakrobaten 6,4 Sekunden, um die Zahlen 638 und 832 miteinander zu multiplizieren, der beste Kassierer hatte jedoch die Lösung schon nach vier Sekunden gefunden. Und für die Berechnung von 7286 x 5397 benötigte der schnellste der beiden Akrobaten 21 Sekunden, der schnellste Kassierer dagegen nicht mehr als dreizehn Sekunden.
Vor einiger Zeit hat ein internationales Forscherteam unter der Leitung von Terezinha Nunes die Rechenkünste brasilianischer Schreiner empirisch untersucht. Getestet wurden sowohl Schreiner mit langjähriger Berufserfahrung als auch Lehrlinge ohne jede handwerkliche Praxis. Dabei zeigten sich fundamentale Unterschiede. Während die älteren Schreiner, die nur über eine rudimentäre Schulbildung verfügten, ausnahmslos gut abschnitten, brachten die Lehrlinge kaum etwas zustande und waren schon damit überfordert, die für ein Bettgestell nötige Holzmenge zu ermitteln. Weil sie keine Ahnung hatten, wie sie vorgehen sollten, wandten sie die arithmetischen Standardtechniken, die ihnen in der Schule vermittelt worden waren, wahllos und ohne jedes Verständnis an – und dabei kamen die absurdesten Lösungen heraus. So errechnete jemand, daß für ein Bettgestell von 1,90 Meter Länge und 0,90 Meter Breite ein Holzblock von nicht weniger als 16,38 Meter Länge, 10,20 Meter Breite und 0,12 Meter Dicke erforderlich sei. Der Lehrling hatte einfach die Maße aller Bauteile zusammengezählt.
Nunes und ihre Kollegen haben desweiteren die arithmetischen Fertigkeiten von brasilianischen Straßenkindern erforscht, die vom Verkauf von Kokosnüssen und Zitronen leben. Die Untersuchung förderte Erstaunliches zu Tage. Obwohl die Kinder nie eine höhere Schule von innen gesehen hatten, erwiesen sie sich an den Marktständen als regelrechte Zahlenakrobaten.
Als sie jedoch eine Woche später konventionellen schriftlichen Rechentests unterzogen wurden, scheiterten sie kläglich. Warum? Keith Devlin hat auf diese Frage eine schlüssige Antwort: Anders als in der wilden Straßenmathematik, in der alles und jedes in einem Sinnzusammenhang mit der Alltagspraxis steht, werden in der Schulmathematik Symbole und Prozeduren angewendet, die extrem abstrakt und weitgehend sinnentleert sind. Devlin erklärt außerdem, warum japanische und chinesische Kinder beim Zählenlernen ihren europäischen Altersgenossen weit überlegen sind. Er spekuliert über die evolutionären Ursprünge der menschlichen Mathematik. Und er verrät, warum man von Anfang an mit den Fingern gezählt hat. Ein faszinierendes Buch, sogar für mathematische Analphabeten. Unverständlich ist nur, daß Devlin an der herkömmlichen Schulmathematik nichts auszusetzen hat. Alle, die mit ihr üble Erfahrungen gemacht haben, müssen sich mit einem schlichten Rat abspeisen lassen: üben, üben, üben.
Keith Devlin: Der Mathe-Instinkt. Warum Sie ein Mathe-Genie sind und Ihr Hund und Ihre Katze auch. Klett-Cotta Stuttgart 2005, 248 Seiten, 19,50 Euro
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