von Wladislaw Hedeler
Unter dieser Häftlingsnummer mußte Ursula Rumin zusammen mit über eintausend Leidensgefährtinnen in einem der drei Frauenlager in Workuta im Polargebiet von April 1953 bis Januar 1954 Zwangsarbeit leisten. Diese unwirtliche Gegend jenseits des Urals ist nicht nur ein Synonym für das Gulag-System und der Name eines Industriegebietes in der Sowjetunion, das im wahrsten Sinne des Wortes auf den Knochen von Häftlingen errichtet wurde, sondern auch ein Symbol für deren Widerstand. In den Bergwerken mußten die hier inhaftierten Männer von Mai 1938 bis Januar 1960 unter unsäglichen Bedingungen Kohle und Molybdänerz zutagefördern. Unter den Verurteilten waren sehr viele Ukrainer. Seit 1947 gab es hier ein Sonderlager für deutsche Kriegsgefangene. Im Juli 1953 streikte die Belegschaft von Schacht 29.
Bei dem als Schweigelager bezeichneten Haftort handelte es sich um ein Lager mit verschärftem Haftregime. Die Häftlinge, die auf ihrer Kleidung Nummern tragen mußten, hatten ein höheres Plansoll zu erfüllen als Häftlinge in »gewöhnlichen« sowjetischen Besserungsarbeitslagern, bekamen eine geringere Verpflegungsration und durften weder Briefe schreiben noch Post empfangen. Die Baracken wurden nachts verschlossen.
Die erste Station nach der Ankunft im Transitlager war die Ziegelei. Dann folgte der Arbeitsplatzwechsel: Lehmstechen. Ursula Rumin hatte Glück im Unglück, durch eine Amnestie kam sie frei. Ihr Leidensweg endete ebenso überraschend, wie er begann. Am 25. September 1952 war die junge Westberlinerin, die von der DEFA einen Drehbuchauftrag für einen Film über den neuen Strafvollzug erhalten hatte, am Bahnhof Friedrichstraße von Mitarbeitern des sowjetischen Ministeriums für Staatssicherheit entführt worden. Statt in die Jägerstraße, wo sich das Büro der DEFA befand, brachte der Wagen sie nach Karlshorst. An ihrem Geburtstag im Dezember verurteilte sie ein Militärtribunal wegen antisowjetischer Propaganda, Verrat sowjetischer Geheimnisse sowie Mitwisserschaft und Hetztätigkeit zu fünfzehn Jahren Arbeitslager. Die Verhandlung wurde in russischer Sprache geführt, worum es im einzelnen ging, verstand die Angeklagte nicht. Das war ein weiteres Glied in der Kette der Torturen, Folterungen und Demütigungen während der »Untersuchungshaft«.
Für ihre Angehörigen blieb sie seit der Fahrt nach Ostberlin verschwunden, Anrufe bei der DEFA waren erfolglos, und die Westberliner Stellen konnten nicht auf Ostberliner Territorium Erkundigungen einholen. Am 17. März, Stalin war seit zwölf Tagen tot, kam sie zusammen mit anderen Frauen auf Transport. Zwei Tage und Nächte dauerte die Fahrt bis Moskau. Nach dreizehn Tagen Butyrka-Gefängnis ging es weiter – immer in Richtung Norden.
Ursula Rumin hat den Alltag im Lager vom Wecken bis zum Einschließen in den Baracken beschrieben. Wie andere Leidensgefährten kommt auch sie in ihren Erinnerungen nicht umhin, russische Bezeichnungen einzuflechten, für die es kaum deutsche Entsprechungen gibt. Es beginnt bei der Kleidung und endet bei der Verpflegung. Dazwischen gab es eigentlich nur Arbeit. Die einzige Abwechslung war der Auftritt als Tänzerin im Auftrag der Abteilung für kulturerzieherische Arbeit. Was ist sonst noch zu berichten? Der Sommer ist kurz, Frühling und Herbst gibt es nicht, nur den Polarwinter mit seiner grausamen Schönheit.
Die Frauen waren unter sich, Kriminelle gab es in ihrem Lagerpunkt Gott sei Dank nicht. Ihre Baracke teilte sie mit Frauen aus der Westukraine, die im Lager das Sagen hatten. »Sie hassen die deutschen Frauen«, notierte Ursula Rumin, »weil sie während des Krieges als Zwangsarbeiterinnen in Deutschland arbeiten mußten. Als sie in ihre Heimat zurückkehrten, galten sie dort automatisch als Feinde und wurden ohne Gerichtsverhandlung bis zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Russinnen sind im Lager in der Minderheit. […] Fast immer heißt der Verhaftungsgrund: Verbindung mit einem Ausländer.« Doch die Konflikte halten sich in Grenzen, die Solidarität ist stärker als die Zwietracht. Nach Berijas Verhaftung änderte sich die Situation. Die Häftlinge durften die Nummern von ihrer Kleidung entfernen, die Baracken wurden nachts nicht mehr von außen verschlossen, die Gitter vor den Fenstern verschwanden und den Deutschen wurde erlaubt, nach Hause zu schreiben. Ursula Rumin hatte ein Jahr Lagerhaft hinter sich, als sie erfuhr, daß ihr Name auf einer Liste der amnestierten Häftlinge steht.
Zu Hause angekommen, entschließt sie sich, über ihr Schicksal und das ihrer Leidensgefährtinnen zu berichten. Mit dem Buch zu den TV-Dokumentationen Workuta – Deutsche in Stalins Lagern und Eisgang – Deutsche im Gulag hat sie nach langer Zeit ihr Versprechen eingelöst.
Ursula Rumin: Im Frauen-GULag am Eismeer. Mit einem Vorwort von Karl-Wilhelm Fricke. Mit 40 Fotos und Dokumenten, Herbig Verlag München, 317 Seiten, 22,90 Euro
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