von Gerhard Wagner
Immer wieder versah René Magritte (1898-1967), der belgische, unter anderem in Paris wirkende Surrealist, die männlichen Gestalten auf seinen Ölbildern mit der von ihm selbst geschätzten Melone. So in Der Sinn der Nacht (1927) und Der gute Glaube (1964/65); uniforme, steife, melancholische Massenmenschen bestimmen hier das Bild. Magritte selbst ist aber dem legendären Tramp des Charlie Chaplin näher, der das physiognomische Kleinbürgerklischee immer wieder ironisch brach.
Denn im zuweilen Düsteren und Öden, im Gebrechlichen und Verschlissenen, im fast schon Verschollenen war Magritte zu Hause und fühlte sich für inszenatorische Eingriffe zuständig. Er sammelte Bildräume und -szenen, appellierte an das visuelle Gedächtnis, indem er Details zitierte und montierte, sie für das Weltganze und seine Weltbilder stehen ließ: eine Tabakspfeife, die keine ist; eine nächtliche Einöde, die zugleich von einem sonnigen Mittagshimmel überwölbt wird; eine erschrockene Leserin; eine überdimensionale Rose; zerbrechende Wände; Regale voller Begriffe; eine blutverschmierte antike Büste.
Die Frage ist nun, welche allgemeine Bedeutung Magritte seinen Sujets teils abgewann, teils verlieh. Sie wird durch die Baseler Ausstellung von rund neunzig Gemälden aus nordamerikanischen und westeuropäischen Sammlungen weder gestellt noch beantwortet. Aber ihr Ort, der großzügige, lichtdurchflutete Renzo-Piano-Bau in Riehen vor den Toren Basels, ermöglicht eine Zusammenschau der Motive Magrittes mit denen anderer Ikonen des 20. Jahrhunderts, denn die Fondation Beyeler ist eine der weltweit besten Sammlungen zur Klassischen Moderne. Sie lädt ein zur Entdeckung von »Korrespondenzen« zwischen Magrittes Bilderrätseln und den impressionistischen Stilisierungen der Realität bei Claude Monet, der extremen Zeichenhaftigkeit bei Wassilij Kandinsky und Paul Klee, der in den Kleinfiguren Alberto Giacomettis vergegenständlichten Raumwahrnehmung und der Farbflächen-Phantastik Mark Rothkos.
So wird erneut deutlich: Magrittes Wahrnehmungsweise entsprach in hohem Maße dem surrealistischen Streben nach Schaffung einer zweiten Wirklichkeit, nach dem inszenierenden Spiel mit der Spannung zwischen altmeisterlich gemalten Einzelgegenständen und ihrer überraschenden Kombination oder Verschmelzung. Magritte verlieh gleichzeitig, quasi durch Doppelbemalung, jedem Bild Zweidimensionalitäten in einem besonderen Sinne: Fernes und Gestriges wurde naheliegend und vertraut; Nahes und Heutiges erschien als exotische Trophäe; das Düstere offenbarte sich im Hellen. Oder, mit Giorgio di Chiricos Worten: Magritte verlieh »dem Gewöhnlichen einen höheren Sinn, dem Alltäglichen den Anschein des Mysteriums, dem Bekannten die Würde des Unbekannten und dem Endlichen die Züge des Unendlichen«. Wichtige Motive der Moderne tauchen daher auch bei ihm auf: die Versteinerung der Verhältnisse (Das Spukschloß, Die Legende der Jahrhunderte; beide 1950), die existentielle Bedrohung (Die Gefährten der Angst, 1942; Die universelle Schwerkraft, 1943), der den Himmel verdunkelnde Krieg (Die schwarze Fahne, 1937). So markierte Magritte, der Weltgewandte, der aufmerksame Leser von Edgar Allan Poe, Sigmund Freud, Louis Aragon und Georges Bataille, die beweglichen Schwellen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen dem unmittelbar, augenscheinlich vorgegebenen und dem authentischen Sein, dadurch die überall präsente Unabgeschlossenheit und Vorläufigkeit der geschichtlichen Lagen. Genau das, worüber die geschäftigen Zeitgenossen leichtfertig hinweglebten, war ihm sehr wichtig.
In diesem Sinne scheint noch heute René Magritte wie einer seiner besagten Melonenträger aus dem Brüsseler Wohnzimmeratelier zu schreiten, den vielen Betrachtern seiner Bilder aufmunternd zuzunicken, sich in diese hineinzubegeben, ihr individuelles Bildbegehren mit kollektiven Bildgedächtnissen zu kreuzen. Aber wenn sie nun verfestigte Idyllen, melancholische Reminiszenzen mit hohem Charmespiegel, versöhnliche Kopien nostalgischer Stereotype, dekorative Konsenswaren sowie schlüssige Interpretationen erwarten, dann schüttelt der Bilddetektiv Magritte, der mit ernster Miene die schwarzen Schatten des Daseins in Salons, Korridoren und über Dächer verfolgte, offenbar heftig den Kopf. Und verwandelt sich augenblicklich in eine Gestalt aus seinem frühen Bild Der Barbar von 1927: in Fantômas, den Zylinder-Träger und Serienhelden in Louis Feuillades Stummfilmen von 1913/14, der sich immer neu verkleidet – und kurz vor jedem Zugriff entzieht.
René Magritte: Der Schlüssel der Träume. Bis 27. November. Fondation Beyeler, Baselstraße 77, CH-4125 Riehen/Basel. Täglich 10 bis 18 Uhr, mittwochs 10 bis 20 Uhr. Katalog 49 CHF (32 EUR).
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