von Jens Knorr
Die Frauen in Puccinis Opern wollen dazugehören – die Prostituierte Manon zur Welt der Reichen, die Näherin Mimi zur Männergruppe der ewigen Bohemiens, die Geisha Cho-Cho-San zu dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten –, und bezahlen dafür mit ihrem Leben. Die Frau gleichen Namens in Calixto Bieitos Neuinszenierung von Madame Butterfly will eigentlich nur einen gültigen Reisepaß, den sie mit dem Leben anderer bezahlt. Cho-Cho-San (Juliette Lee) und ihre Kollegin Suzuki (Susanne Kreusch) arbeiten als Nutten in einem gutgehenden ostasiatischen Puff, der von Goro (Christoph Späth) effizient geleitet und von dem pädophilen Konsul Sharpless (Tom Erik Lie), dem nichten-geilen Kriegsveteranen Onkel Bonzo (Jens Larsen) und dem amerikanischen Marineoffizier Benjamin Franklin Pinkerton (Marc Heller) gern frequentiert wird, von diesem selbstverständlich in Zivil.
Das weitere Personal wird vom Chor der Komischen Oper gestellt. Dazu läßt das Orchester der Komischen Oper unter der musikalischen Leitung von Daniel Klajner Puccinis Musik mit leerer Expressivität ablaufen, neben der Handlung her oder über sie gegossen, so daß der Hörer den Eindruck gewinnen muß, die drei Absätze aus Gerd Rienäckers Thesen zu Puccini, die im Programmheft abgedruckt sind, rapportierten bereits im vorhinein die Versäumnisse der musikalischen und szenischen Interpretation.
Denn die eine wie die andere tappt taub und blind in alle Falltüren, die Puccini gebaut hat, nicht zu vergessen die, die sich mit Bieitos ach so moralischem und kompromißlosem Anprangern von Sextourismus und Heiratsmarkt auftun, jenen unschönen Sparten unserer modernen »Dienstleistungsgesellschaft«.
Wer die ersten Minuten der Aufführung gesehen hat, der hat die ganze Aufführung gesehen. Fast die ganze! Bieitos Puff unter Palmen (Bühne: Alfons Flores, Kostüme: Anna Eiermann) bietet Luftballons und buntes Neonlicht, Jahrmarktsrodeo und Video, Cowboyhut und Donald Duck, Lotterbett und Designersessel und Badewanne in Muschelform, der Cho-Cho-San als Schaumgeborene entsteigt, um in ihre Hochzeit einzusteigen; er bietet Raum für alle möglichen Spielchen, nicht aber für szenisches Spiel und für die Musik schon gar nicht.
Die Abbildung eines Puffs sagt nichts aus über einen Puff. Wenn der Lude die Nutte auf das Sofa zerrt und zum Schlag ausholt, dann weiß jedermann, daß die Schläge des Sängers ins Leere treffen; wenn der Freier »es« sich von der Fünfzehnjährigen »besorgen« läßt, dann ahnt jeder die wahren Volumenverhältnisse an des Sängers Unterleib, da der Oberleib zum Spitzenton ansetzt. Die Reihe der Beispiele erschütternd einfältiger Mätzchen ließe sich beliebig fortsetzen, aus ihnen wird ersichtlich, wie Bieito in seinem Grundeinfall gefangen bleibt, den er, einmal etabliert, permanent bedienen muß, um ihn irgendwie zu rechtfertigen, und dabei kaum eine künstlerische Übersetzung für die gewalttätigen Vorgänge findet, die in allen Schichten von Puccinis Oper freizulegen wären.
Bieito erweckt nur den Anschein, als bürste er Madame Butterfly gegen den Strich, in Wahrheit schickt er sie auf den neuen. Er tut genau das, was er anzuklagen vorgibt: Er prostituiert Stück, Sänger und Publikum für seine Zwecke, ohne diese an der Partitur zu prüfen. Unser aller Christoph Schlingensief, der diese Spielzeit an der Volksbühne ein Bordell mit ukrainischen Prostituierten aufmachen will, hat einen Scheinrealismus, wie ihn Bieito hier auftischt, treffend als »Sozialpornographie« bezeichnet.
Dabei gab es an der Komischen Oper bereits eine Inszenierung, die den Vorgängen hinter den Vorgängen auf die Spur zu kommen, den kulturellen Konflikt als sozialen und den sozialen als kulturellen Konflikt ins Bild zu bringen und den allseitigen Voyeurismus ins Bewußtsein zu heben suchte, insbesondere den des Zuschauers angesichts der Tragödie. Der Regisseur Joachim Herz, von 1976 bis 1981 Intendant des Hauses, dem am Premierenabend die Ehrenmitgliedschaft verliehen wurde – spät, aber glücklicherweise nicht zu spät! –, Joachim Herz hatte 1978 eine als »Urfassung« deklarierte Mischfassung aus Puccinis erster und zweiter Fassung von 1904 zur Diskussion gestellt. Bieitos Inszenierung, der die Fassung von Joachim Herz und Klaus Schlegel zugrundeliegt, fällt weit dahinter zurück.
Doch da, als der Inszenierung schon längst der Atem und dem Regisseur die Kopulationsphantasien ausgegangen scheinen, als sich längst abgestandene Einfühlungsattitüde auf der Bühne und gähnende Langeweile im Parkett breitgemacht haben, da weckt ein kurzer Auftritt von Günter Neumann – in der Inszenierung von 1978 der Pinkerton – Interesse. Neumann als Fürst Yamadori läßt für einen flüchtigen Augenblick das Dilemma eines Mannes aufscheinen, der sich der Frau, die er freien will, doch immer nur als Freier nähern kann. Antwortet sein Zurückweichen auf die Zurückweisung durch Cho-Cho-San, die sich für Pinkertons Gattin hält? Kommt es aus der Einsicht, daß sich seine Liebe nur im Verzicht auf die Liebe erhalten, weil unter Ungleichen jeder Austausch immer nur Tausch und jeder Tausch immer nur Raub sein kann? Wenn in diesem kurzen Auftritt so viel beschlossen liegt, was muß dann erst in der gesamten Oper beschlossen liegen?
Und dann gibt es noch ein Bild vor dem Orchesterzwischenspiel zum Dritten Akt: Butterfly in ihrem verschossenen Hochzeitsfummel von vor drei Jahren, ihr Kind zur Linken, ein Mädchen auf einem Dreirad, das ihr ein »lieber« Onkel geschenkt haben mag, Butterfly zur Rechten Suzuki, die unverdrossen ein albernes Stars-and-Stripes-Badetuch hochhält, als wäre es rein und unbefleckt und nicht durch aller Hände gegangen und jedermanns Schritt gezogen. Drei Desillusionierte, die sich an zerstörte Illusionen klammern, weil neue nicht zu haben sind, und es ohne doch nicht geht. Ein rührendes und wunderbarerweise gar nicht kitschiges Bild. Ein Bild zum Weinen wahr, als wär’s aus einer anderen Inszenierung.
Vorstellungen am 12. und 28. November, 6. und 28. Dezember 2005 sowie am 15. Januar 2006
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