von Stefan Bollinger
Der neue deutsche Einheitsbrei scheint auf dem Wege zu sein: liberal – wenn auch nur neofreiheitlich für Unternehmer; konservativ – bedingt mitfühlend für »Modernisierungs«-Verlierer; sozial – obschon das vereinzelte Individuum fordernd. Gut neunzig Prozent der Wählenden entschieden sich für prokapitalistische, neoliberale Parteien, die einen unverkrampft, die anderen mit Bauchschmerzen. Die absolute Mehrheit denkt und fühlt letztlich neoliberal, die kulturelle Hegemonie zieht nach rechts, ist demokratiefeindlich, profitfreundlich. Immerhin, vier Millionen Wähler glaubten in einer neuen Linkspartei eine Alternative zu finden, während wiederum dreizehn Millionen zu Hause geblieben waren.
Verwunderung und Unmut über die Große Koalition halten sich in der politischen Klasse und bei den Wirtschaftsbossen in Grenzen. Wie schon 2002 hatten Teile der Medien und der Politiker eine solche Konstellation herbeigeredet und -geschrieben. Natürlich wird sich darüber gesorgt, daß in Zeiten Großer Koalitionen die Ränder gestärkt werden könnten. Aber die Merkels und Münteferings haben nun eine satte Mehrheit im Bundestag und freie Bahn im Bundesrat. Und diese Mehrheit – das wurde bislang kaum thematisiert – ist eine Verfassungsmehrheit. So könnte jene neoliberale Zurichtung Deutschlands erreicht werden, die bislang nur bedingt erfolgreich war.
Eine derartige Entwicklung wäre die regierungsamtliche Untermauerung eines Zustandes, der spätestens seit der Verkündung und der schrittweisen Umsetzung der Agenda 2010 durch Schröder-Fischer praktiziert wird. Der Umbau (besser: Abbau) des Sozialstaates durch Leistungskürzung und Abwälzung von Verantwortung und Kosten auf die Betroffenen, wodurch ja nur deren Selbstverantwortung gestärkt werden soll, wie es scheinheilig heißt und was manch linkem Emanzipationsfreund durchaus gut im Ohr klingt. Attacken auf Kündigungsschutz und Tarifrecht; Unterminierung und Zerschlagung des Normalarbeitsverhältnisses, von dem Mann und Frau leben können, zugunsten jener Konstrukte von Arbeitskraftunternehmern, die endlich die Möglichkeit der selbstbestimmten und selbstverwirklichenden Arbeit bieten sollen. Vielleicht sollte die Formel vom doppelt freien Lohnarbeiter als Resultat von bürgerlichen Revolution und Umwälzung ergänzt werden: Nun, nach dem Untergang des Staatssozialismus, ist er im »glorreichen« Zustand des auch vom Lohn befreiten Arbeiters, der sich dafür Ich-AG-Unternehmer, Selbständiger oder Hartz-IV-Empfänger nennen darf.
Nicht zu vergessen ist, daß alle diese Projekte das Ergebnis gemeinsamer Arbeit von SPD und CDU/CSU sind, denen die gelben und grünen Oppositions- und Regierungspartner assistierten. Die Situation war insofern günstig, als mit Schröder die neue Sozialdemokratie der neuen Mitte jenen neoliberalen Weg ging, den zu betreten sich die CDU/CSU aus gutem Grund nicht wagte, aber eigentlich seit 1982 immer gewollt hatte, es aber nur zu ersten Schritten und zum Vorreiter bei der Zerstörung des entwaffneten Ostens gebracht hatte.
In dem Moment, als die SPD (und die Grünen sowieso) sich auf das neoliberale Weltbild vom überforderten Staat, genauer des Sozialstaates, von den geleerten Kassen und der Globalisierung einließ, wurde der Widerstand der organisierten Arbeitnehmerschaft weitgehend neutralisiert. Die Zerstörung der sozialen Basis der Gewerkschaften hat ihr Übriges getan, um den Widerstandswillen zu brechen. Wo keine Tarifverträge mehr gelten, wo keine Mitbestimmung mehr greift, wo prekäre Arbeitsverhältnisse eher an die USA oder an Brasilien erinnern, da hat der Gewerkschaftsfunktionär ausgedient. Wer bei Schlecker, McDonald’s oder Lidl als Pauschalkraft oder im Minijob arbeitet, wer gar als MAE – als »Mehraufwandsentschädigungskraft« – respektive als 1-Euro-Kraft oder als Schwarzarbeiter zu überleben sucht, kann vielleicht im Moment zurechtkommen, aber für Widerstand, für Einsicht, wer für sein Schicksal Verantwortung trägt und daran verdient, bleibt wenig. Seine Wut beschränkt sich auf Herrn Schlecker, die Lidl-Vorstände oder sein vermeintlich eigenes Unvermögen. Ihm bleiben die Flucht in Gute Zeiten – Schlechte Zeiten, zum Fürsten und das Mädchen oder in Alkohol und Apathie. Dank Bild und SAT1 & Co. wird das Denken abgewöhnt.
Die Partei des Kapitals und die des sozialen Gewissens nun auch offiziell Hand in Hand – das könnte eine teuflische Mischung ergeben und die soziale Entsicherung der Gesellschaft noch schneller voranbringen. Eine der Lehren aus den Wahlen 2005 ist, daß man sich zum Sozialabbau nicht offen bekennen darf, sondern daß es sozialer Trösterchen bedarf, um diesen Abbau erträglich zu gestalten: weniger für die Betroffenen als für die Entscheider in den Macht- und Konzernzentralen. Denn zu viel Demos und Streiks – also eine spürbare Störung des sozialen Friedens –, das will man nicht, denn sie mindern das Anlegervertrauen.
Es bleibt nur eins: Zu erinnern, daß es Klassenkampf gab und gibt, auch wenn die Klasse der Arbeitenden, der Ausgebeuteten, der Scheinselbständigen, ja selbst die Mittelschichten, die Intellektuellen und die Kleinkapitalisten die Gelackmeierten sind.
Soziale Bewegungen braucht das Land, die nicht nur laut sagen, daß es unmoralisch ist, wenn man den kleinen Leuten ans Portemonnaie und die Wohnung will, sondern daß dies für den Profit und das Wohlleben des knappen Prozents der Bevölkerung, das nicht nur über die erste Million verfügt, und der 91 Menschen, die über Milliarden verfügen, zutiefst »moralisch« ist. Parlamente bewegen sich nur, wenn das Land sich bewegt. Wenn Menschen auf die Straße gehen, Betriebe, die geschlossen werden sollen, besetzen, Ämter, die staatlicherseits die Zerstörung der Gesellschaft exekutieren, lahmlegen.
Hier wäre auch der Platz für jenes Häuflein von Linkssozialisten aus unterschiedlichen Parteien und Sozialisationen, die im Bundestag eine Plattform und in der Arbeit in den außerparlamentarischen Bewegungen, auf der Straße, unter den Menschen, die es auszubaden haben, ihre Basis finden sollten. Das bedürfte gemeinsamen Handelns, aber keiner Einheitspartei. Das Beispiel, das Merkel und Müntefering geben, sollte sie weniger warnen als stimulieren.
Schlagwörter: Stefan Bollinger