von Heinz W. Konrad
Ich schaue nach oben und nehme die farbige Vorschrift wahr, stehen zu bleiben. Schade, ich war so schön im Zuge. Aber Dirigismus im Straßenverkehr leuchtet mir durchaus ein, und also halte ich inne. Auch, wenn meine Reaktion solitär bleibt; bei anderen Fußgängern, und bei Radfahrern sowieso.
Aber, ich gebe zu, da sind zwei Seelen, ach, auch in meiner Brust. Denn die Straße vor mir ist ebenso leer wie jene, die sie kreuzt. Weit und breit keine Fahrzeuge, es ist Sonntagmittag.
Ich stehe mittlerweile mutterseelenallein vor der noch immer roten Ampel. Nicht einmal ein Kind um mich herum, dem ich wenigstens als gutes Beispiel dienen könnte. Dafür wächst der Verdacht, daß der mittelaltrige Mann auf dem gegenüberliegenden Balkon seine Heiterkeit allein aus meiner widernatürlichen Regeltreue bezieht. Ich fange an, mich dafür zu hassen, daß mir Widerstand gegen formalen Stumpfsinn so naturfremd ist.
Haß kann aber auch produktiv sein. Mich zum Beispiel läßt er jetzt fragen: Warum zum Teufel, tust Du es nicht einfach? Bist Du mit 55 Jahren nicht alt genug, um einmal in deinem Leben zu sagen: Ihr könnt mich mal mit Euren Vorschriften! Ich tue, was ich will!? Ich bin es, der einzigartig ist auf dieser Welt und nicht diese Allerweltsampel!
Was sich da in meiner Herzgegend plötzlich breitmacht, ist ein Gefühl von ungeahnter Souveränität. Ich erkenne mich kaum wieder, aber offenbar kann ich auch so sein. Vielleicht bin ich im Grunde immer schon so gewesen, nur haben mich die Umstände (40 Jahre DDR zum Beispiel, man weiß ja …) dies nie spüren lassen?
So also ist es – spüre ich, überschwemmt von Adrenalin –, wenn man sich zum Äußersten entschließt: Man fühlt sich heiter und gelassen, mit einem Wort: guuuut.
In diesem Hochgefühl jenseits von Cannabis und Extasy fällt mir ganz leicht, was mir eben noch unmöglich erschien: Ich gehe bei Rot über die Kreuzung. Verächtlich schaue ich auf die Ampel, von der ich mir nie mehr etwas verbieten lassen will:
Sie hat derweil auf Grün geschaltet.
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