von Jörn Schütrumpf
An sich ist es Zeit für einen Linksruck. Auch wenn auf der traditionellen politischen Farbskala noch keine Koalition so weit links stand wie die rot-grüne unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer, hat doch bislang keine deutsche Bundesregierung eine solch rechte Politik gemacht: Deutschlands erster Kriegseinsatz seit 1945; die Zerspanung des Sozialstaates, natürlich unter der Flagge, ihn zu erhalten; Steuerbefreiungen für Wohlhabende, bis die Türen der Sektkeller nicht mehr zugingen; zugleich die Beförderung einer Lumpenproletarisierung, wie es sie seit der Vor-Hitler-Zeit nicht mehr gegeben hatte – zuerst im Osten, nun auch im Westen. Das alles hätte sich einmal die CDU wagen sollen.
Diese Christlich-Demokratische Union machte nach der Währungsreform das Gegenteil – zwar nicht sofort, aber ab 1949. Sie gestaltete die Marktwirtschaft sozial – nachdem sie allerdings zuvor, am 12. November 1948, »ihren« 17. Juni hatte erleben müssen. An diesem Tag revoltierten in Stuttgart Tausende – aus Protest gegen die Politik Ludwig Erhardts, der die Währungsreform mit Preisfreigabe und Lohnstopp verkoppelt und so einen rapiden Anstieg der Arbeitslosigkeit ausgelöst hatte. Die Panzer, die die Protestierenden niederzwangen, zierte – genau wie viereinhalb Jahre später in Ostberlin – ein Stern, allerdings war es ein weißer, der der US Army. Bis auf den vor wenigen Jahren verstorbenen Historiker der Arbeiterbewegung Gerhard Beier haben sich fast alle Meinungsproduzenten, Historiker wie Journalisten, stets an das Erinnerungsverbot gehalten, das per nonverbalem Konsens auf dieses Ereignis gelegt worden war – auch wenn sie es kaum weniger als die Politiker lange Jahre stets im Hinterkopf trugen. Der 12. November 1948 prägte die Sozialpolitik in der Bundesrepublik ähnlich nachhaltig wie der 17. Juni 1953 die der SED.
Auch im Westen waren den Panzern diverse Sozialverordnungen gefolgt. Viel Geld steckten die erste und zweite Regierung Adenauer in den Wohnungsbau und in den Lastenausgleich für die Vertriebenen. Da der Koreakrieg den Weltmarkt leergeräumt und im Nebeneffekt für den westdeutschen Export freigemacht hatte, wurden Ludwig Erhardts liberale Wirtschaftspolitik mit dem »Wirtschaftswunder« und die Sozialpolitiker mit hohen Steuereinnahmen belohnt. Die dritte Regierung Adenauer baute den Sozialstaat endscheidend aus, als sie dem Problem der Altersarmut grundsätzlich zu Leibe ging: Sie erfand für die Rente den »Generationenvertrag«; 1961 organisierte sie außerdem die Sozialhilfe.
Erst die – vergleichweise harmlose – Krise von 1966 beendete in der Wirtschaftspolitik den Ordoliberalismus und zeugte den antizyklischen Staatsinterventionismus der (ersten) Großen Koalition; die Wirtschaft boomte erneut, und Willy Brandts und Walter Scheels sozial-liberale Koalition konnte ab 1969 unglaublich großzügig an den Ausbau des Sozialstaates herangehen. Zwei Krisen später und nach erneut ausgebrochener Massenarbeitslosikeit drang die FDP 1982 auf eine Rückkehr zum Ordoliberalismus in der Wirtschaftspolitik, der in den sechzehn Jahren der Kanzlerschaft Helmut Kohls aber trotz aller Einschnitte von einer letztlich sozialdemokratisch geprägten Sozialpolitik begleitet wurde.
Erst die Regierung Schröder/Fischer, fast auf den Tag fünfzig Jahre danach ins Amt gekommen, »emanzipierte« sich vom 12. November 1948. In ihrer zweiten Legislaturperiode ergänzte sie den Ordoliberalismus in der Wirtschaftspolitik durch einen Neoliberalismus in der Sozialpolitik, begleitet und abgesichert von einem Ausbau des Polizei- und Überwachungsstaates – den sie mit dem »Kampf gegen den Terror« legitimierte.
Angela Merkel steht nun vor einer ähnlichen Situation wie Konrad Adenauer 1949 und Walter Ulbricht 1953. Ulbricht war damals gerade dabei gewesen, den Stalinismus nach sowjetischem Vorbild – also mit viel Sozialpropaganda und wenig Sozialpolitik – endgültig in der DDR einzuführen, als ihn die Unruhen zu viel Sozialpolitik und noch mehr Sozialpropaganda zwangen. Der Unterschied zu den beiden Alten dürfte allerdings darin bestehen, daß sie erfahren genug waren, um die Zeichen ihrer Zeit sofort zu begreifen – was bei Angela Merkel bisher zumindest noch nicht zu erkennen und eher auch nicht zu erwarten ist.
Gerhard Schröder hat ihr den roten Teppich in Richtung sozialpolitik-freier Innenpolitik ausgerollt; sie machte aber vor der Wahl den Fehler zu verraten, wie sie zu einer auf protestantisch gefönten Maggie Thatcher emporzuwachsen gedachte. Nicht zuletzt deshalb haftet an dieser Wahl ein Hauch vom 12. November: Von den in den siebziger Jahren noch mehr als neunzig Prozent für CDU und SPD sind siebzig Prozent übriggeblieben; im Osten reicht es sogar fast nirgends mehr zur Zweidrittelmehrheit. Außerdem hat eine Partei links von der SPD die Chance, sich bundesweit dauerhaft zu etablieren. Denn die Abdrängung unzufriedener Wähler in die Wahlenthaltung – jahrzehntelang ein entscheidender Unterschied zwischen Bonn und Weimar – funktioniert nicht mehr zuverlässig. Zudem ist die Formierung einer stabilen faschistischen Rechten wahrscheinlich keine Frage mehr des Ob, sondern nur noch des Wann. Mit ihrer Arbeitsmarkt-, Steuer- und Sozialpolitik haben Schröder und Fischer jedenfalls nach Kräften, wenn auch ohne Zweifel nicht mit dem Wissen, was sie da eigentlich taten, deren Massenbasis geschaffen.
Der in letzter Zeit fast nur noch gedemütigte Arbeitnehmerflügel der CDU befindet sich im Aufwind; ebenso die Partei- und Gewerkschaftslinke in der SPD – wie immer nach Niederlagen werden sie gebraucht. Hat die Linkspartei mit ihren Regierungsbeteiligungen in Schwerin und Berlin sozial sicher das ihr Mögliche herausgeholt und trotzdem die neoliberalen Zumutungen nur abmildern, bestenfalls verzögern können, so zeigte sie jetzt, daß sie aus der Opposition heraus mehr denn je Kräfteverhältnisse wirklich verändern kann – auch wenn die »Gestaltung« in der Regierung viel mehr Befriedigung und »Spaß« bringen mag; von anderem zu schweigen. Linke Politik ist aber kein Selbstverwirklichungstrip.
Angela Merkel und Franz Müntefering haben sich zu entscheiden, ob sie Heinrich Brüning, dem Totengräber der Weimarer Republik, oder Konrad Adenauer (um nicht zu sagen: Walter Ulbricht) folgen wollen. Anders gesagt: ob sie die »politischen Ränder« stärken und strategisch in der Linkspartei doktrinäre Kräfte vom Schlage Ernst Thälmanns oder Heinz Neumanns nach oben spülen wollen oder ob sie ein Bündnis mit den jeweiligen Parteilinken eingehen, um wie die Große Koalition von 1966 eine intelligente antizyklische Wirtschaftspolitik zu praktizieren. Das wäre in der Tat ein Linksruck – der uns zudem die Rechte vom Hals hielte.
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