Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 12. September 2005, Heft 19

Maßstäbe

von Erhard Crome

Julia Michelis war in Erfurt beim Sozialforum. Dort wurde sie mutlos, worüber sie im Blättchen schrieb (Heft 18) und sich dabei auf einen von mir im Neuen Deutschland (30./31. Juli 2005) veröffentlichten Artikel bezog. Die Autorin hätte natürlich auch einen Leserbrief an das Neue Deutschland schicken können. Dann würde diese Debatte dort fortgesetzt, wo sie begann.
Julia Michelis meint, ich hätte »die Zuchtrute hervorgeholt«, weil ich feststellte, es sei eine »wieder sehr ›deutsche‹ Debatte«, die nach dem Forum darum geführt wurde, ob Erfurt denn nun ›ein Erfolg‹ war, oder nicht. Das mit dem »sehr Deutschen« war von mir als Tatsachenfeststellung gemeint, nicht als Wertaussage. Also, Sado-Maso war nicht mein Ansinnen. Vielmehr hatte ich im Internet herumgesucht, wer denn so dies oder das über das erste Sozialforum in Deutschland mitgeteilt hatte. Positives teilten die wirklichen sozialen Bewegungen, Kirchengruppen, regionale Sozialforen mit; sie hatten neuen Mut geschöpft, interessante Debatten erlebt und dankten oft den Organisatorinnen und Organisatoren. Einzig die Beauftragten der siebten, achten oder n-ten »Internationale«, die Vertreter von »Arbeitermacht«, »Generalstreik« und »Weltrevolution« auf Erden monierten, es hätte weder eine klassenmäßige Losung noch klare Beschlüsse gegeben. Außerdem seien zu viele Kirchenleute und andere klassenfremde Elemente dagewesen. Klare Perspektive: Raustreten zur Revolution! Ein vereinzelter Jungredakteur hatte zwischenzeitlich vermeldet, Erfurt sei »kein Erfolg« gewesen; aber der schielt wahrscheinlich bereits auf einen gutbezahlten Posten in der bürgerlichen Großpresse.
Julia Michelis befindet, angesichts der in Deutschland vorhandenen »linken Organisations-Tradition« hätte mehr herauskommen müssen als: »Schön, mal darüber gesprochen zu haben«. Was meint sie mit »Organisations-Tradition«? Zur Vorbereitung eines Pfingsttreffens der FDJ arbeitete stets mindestens ein Jahr lang ein Sonderstab, der selbst die Abfolge der Wagen in der »Großdemonstration« und die berühmten »Winkelemente« minutiös plante. Partei, Gewerkschaft, Jugendverband, Frauenbund usw. bildeten ein zusammengehöriges Ganzes, das organisatorisch immer hervorragend funktionierte. Nur: Am Ende war es hohl.
Ein solches Gesamtgefüge war übrigens keine Erfindung der Kommunisten. Die alten Sozialdemokraten hatten bereits vor über einhundert Jahren nicht nur ihre Partei, sondern Gewerkschaften, Sparvereine, Heirats- und Begräbniskassen, Konsumgenossenschaften, Frauen- und Jugendorganisationen, Sportvereine, Arbeiterbildungsvereine, den Arbeiter-Sängerbund, den Arbeiter-Samariter-Bund, eigene Zeitungen, die Büchergilde, Kleingärtnervereine, den Arbeiter-Abstinenten-Bund und etliches mehr.
Nach 1918, nach der Spaltung in Kommunisten und Sozialdemokraten gab es das alles dann zweimal. Beide Parteien hatten unter anderem ihre jeweiligen »Wehrorganisationen«, die KPD den Roten Frontkämpferbund und die SPD Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, die nicht nur gegen die Nazis, sondern durchaus auch mal gegeneinander in Aktion traten. Da der ADGB der SPD nahestand, gründete die KPD in den 1920er Jahren mit der Revolutionären Gewerkschaftsopposition auch ihre eigene Gewerkschaft. Die organisierte dann unter anderem 1932 gemeinsam mit der Nazi-Gewerkschaft den BVG-Streik in Berlin.
Beide Varianten der »linken Organisations-Tradition« in Deutschland vermag ich jetzt nicht als fruchtbar zu sehen, sowohl die des Gesamtgefüges nicht als auch die der sich bekämpfenden Flügel. Das mit dem Bekämpfen hatte nach 1945 übrigens kein Ende: SPD, KPD, DKP, MLPD … Die n-ten »Internationalen« und die Erleuchteten der »Arbeitermacht« sind nur die Restbestände der alten Kämpfe. Und dann kamen ja allerlei neue Organisationen und Bewegungen hinzu. Sie firmierten sich als »neue soziale Bewegungen« und wollten als erstes mit »alten« Gewerkschaften, Kirchen, Vereinen usw. nichts zu tun haben.
Das war die Lage, weltweit, in Europa und auch in Deutschland. Dann wurde in Brasilien die Idee des Sozialforums geboren: alle, die gleichermaßen von den Zumutungen des Neoliberalismus betroffen sind, finden sich zusammen, lassen ihre zum Teil jahrzehntealten Streitereien vor der Tür und debattieren gemeinsam über: »Eine andere Welt ist möglich«. Aus solcher Selbstermutigung und Selbststärkung geht dann schrittweise die andere Welt hervor.
Diese Idee ist mit Erfurt nun auch in Deutschland angekommen. Was, liebe Julia Michelis, ist daran entmutigend? Es sei denn, man hat die Heerscharen der Weltrevolution erwartet; aber das werden Sie wohl nicht gemeint haben?