von Erhard Crome
New Orleans. Die europäische Stadt am falschen Ort. Oder doch Amerika? Dort mündet der Mississippi in den Golf von Mexiko. Das kennt man doch, ohne dagewesen zu sein: Friedrich Gerstäcker und Mark Twain, Tom Sawyer und Huckleberry Finn, später Louis Armstrong und Fats Domino. Jetzt diese Bilder: das Wasser und der Tote in einem Rollstuhl, eine Decke über dem Körper. Das rasch beschriebene Pappschild: Dieser Mensch starb hier. Hitze und Fliegen und Plünderer und Rufe: Helft uns! Sechs Tage nach der Katastrophe sterben noch immer Menschen. Kein Wasser, keine Nahrung, kein Insulin für Diabetiker. Es sind Schwarze die sterben. Die weiße Mittelklasse ist mit ihren Autos beizeiten weggefahren, in höhere Regionen, wo es sicherer ist.
Die Kamera zeigt zwei Menschen, die eine Leiche durch die Straßen ziehen. Sie ist in ein Tuch gehüllt, mit Seilen verschnürt. Es soll zu einem Friedhof gehen, der nicht unter Wasser steht. Das Bild habe ich doch schon einmal gesehen? Das war ein Foto aus Leningrad, während der deutschen Blockade. Hunger und fehlende Mittel bei allem, deshalb kein Sarg, die Leiche in einer Decke, verschnürt; an einem Seil gezogen zum Friedhof. Der Kampf um die Weltherrschaft gebiert Kollateralschäden. Den Leningrader Toten allerdings bewirkte der feindliche Angriff der Herrenmenschen aus fremdem Land. Hier ist es die eigene Regierung. Ist es für die Ersaufenden in New Orleans noch die eigene Regierung?
Im Jahre 1998 hatten Bundes- und Staatsbehörden der USA ausgerechnet, daß vierzehn Milliarden Dollar vonnöten seien, um die Küste Louisianas zu schützen. Durch den »Kampf gegen den Terrorismus«, den Bush jun. nach dem 11. September 2001 eröffnete, und den Irak-Krieg ist das Haushaltsdefizit auf 331 Milliarden Dollar gestiegen. Nach den verheerenden Hurrikans des Jahres 2004 bezifferten Experten des Army Corps of Engineers, das für den Hochwasserschutz der USA zuständig ist, den Bedarf für den Hochwasserschutz von Louisiana auf achtzehn Milliarden Dollar. Für das laufende Haushaltsjahr waren aber nur 78 Millionen Dollar für den Schutz von New Orleans beantragt worden; die Bush-Regierung meinte, dreißig Millionen müßten auch reichen, der Kongreß bewilligte schließlich 36,5 Millionen. Den Chef des Ingenieurkorps, Michael Parker, hatte Bush 2002 gefeuert, weil er zu viel Geld für den Hochwasserschutz hatte ausgeben wollen.
Es dauerte mehrere Tage, bis Bush im Flugzeug über New Orleans erschien. Am Morgen des 2. Septembers tauchten plötzlich größere Räumkommandos in der verwüsteten Kleinstadt Biloxi auf. Sie durchsuchten die Reste der Häuser, schafften Leichen weg, fegten die Straßen. Dann erschien der Präsident persönlich in der Ortschaft, drückte ein paar Hände und einige Überlebende, redete von noch schönerem Wiederaufbau jenes Südens und verschwand wieder. Und die Räumkommandos mit ihm. George W. Breshnew.
Um die Lage zu beherrschen, hatte zu jenem Zeitpunkt der Bürgermeister von New Orleans die Entsendung von Nationalgardisten angefordert, 40000 wollte er haben, 12000 wurden ihm zugesagt, 7000 kamen. Die Nationalgarde steht im Irak, weil es in den USA nicht genügend Kriegsfreiwillige gibt, trotz opulenten Solds für die Soldaten. Die Hubschrauber fehlen zu Hause ebenfalls. Zu den Kollateralschäden des Ringens um Weltherrschaft rechnet nun wohl auch New Orleans. Die Warnungen vor der Klimaerwärmung hatte Bush immer für eine Finte der Demokraten gehalten, um die Erdölkonzerne in Mißkredit zu bringen. Die Folgen sind in New Orleans jetzt zu besichtigen. Allerdings stört nun der Ölpreis.
Sydney Blumenthal, in seinem früheren Leben Berater von Präsident Clinton, sagt in die Kamera, dies sei das größte Versagen der US-Behörden seit dem Scheitern von Hoover im Angesicht der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre. Folgt daraus etwas? Bush jun. kann ohnehin nicht wiedergewählt werden. Den Konservativen wird schon eine andere Personalvariante einfallen. Helmut Schmidt, der klügste deutsche Bundeskanzler seit Willy Brandt, sagte in den siebziger Jahren: Sowjetunion – eine Supermacht? Das ist Obervolta mit Atomwaffen. Und was wäre heute zu sagen?
Das Technische Hilfswerk aus Deutschland hilft jetzt in New Orleans, das Wasser abzupumpen. Hierzulande wird das kommentiert mit der Bemerkung, nur ein starker Staat könne dies bewirken. Stimmt das, ist New Orleans unsere Zukunft: Die Neoliberalen haben den Staat auf den Gefängnisbau zurückgestutzt. Reden wir also über die schöne neue Welt des Neoliberalismus, dann zeigt New Orleans, was er für uns bereithält: nicht das New Orleans von Mark Twain und Louis Armstrong, sondern das abgesoffene von 2005.
Fats Domino konnte allerdings gerettet werden und singt wieder.
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