Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 12. September 2005, Heft 19

Ein Becher voll Ostsee

von Kai Agthe

Das Bild, das sich von diesem Dichter bewahrt hat, ist höchst einseitig. Daran hat dieser Schriftsteller selbst leider gehörigen Anteil. In seinen letzten Lebensjahren war Johannes R. Becher (1891-1958) Funktionär, politischer Sänger und Ulbricht-Biograph. Würden sich seine Leistungen darauf reduzieren lassen, wäre es kaum mehr der Rede wert. Doch dieses Dichterleben war wesentlich komplexer und komplizierter. Der Jenaer Autor Jens-Fietje Dwars (Jahrgang 1960) hat es in seiner 1998 veröffentlichten Becher-Biographie, die den beredten Titel Abgrund des Widerspruchs trägt, auf 860 Seiten in aller gebotenen Ausführlichkeit nachgezeichnet. Ebenfalls im Aufbau-Verlag erschien 2003 der Essay Triumph und Verfall. Johannes R. Becher, der ein Extrakt der großen Biographie und des Films Über den Abgrund geneigt ist, den Dwars zusammen mit Ullrich Kasten realisierte und für den Drehbuchautor und Regisseur ebenso den Grimme-Sonderpreis 2001 erhielten wie für die Dokumentation Der Unzugehörige über Peter Weiss im vergangenen Jahr.
Ein gehaltvoller Nachklang der jahrelangen Beschäftigung mit Johannes R. Becher ist die Edition der Ahrenshooper Gedichte, die Dwars vor kurzem in bibliophiler Ausstattung herausgab. Das Buch erscheint in einer einmaligen Auflage von 750 Exemplaren als Hardcover in japanischer Blockbindung und zweifarbigem Druck mit dunkelblau getönten Initialen und, wie nicht verschwiegen werden soll, zu einem recht moderaten Preis. Es bildet gleichsam den Auftakt zur Edition Ornament des quartus-Verlags Bucha bei Jena, in der künftig Bücher mit ausgewählter Lyrik und Prosa erscheinen sollen.
Was der Dichter Johannes R. Becher heute gilt, mag die Verlagsankündigung zeigen, die für den Band mit dem Hinweis wirbt, daß es sich bei dieser Publikation um den »ersten Gedichtband des Lyrikers seit 23 Jahren« handelt. Entstanden sind die hier vereinten 25 Texte zwischen 1946 und 1950 in Ahrenshoop auf dem Darß. In dem bald zum Edelbad erhobenen Fischerdorf verbrachte bekanntlich die Kultur-Nomenklatura der DDR bis 1989 ihre Sommerfrische. Von dem arrivierten Staatsdichter, der dem jungen Land die Nationalhymne schrieb, ist hier rein gar nichts zu spüren. Becher zog sich für die Sommermonate nicht nur von den aufreibenden Geschäften in Berlin an das Meer und damit in sich selbst zurück, sondern er ging in seinen Ostsee-Gedichten auch zurück zu den Wurzeln der Poesie.
Diese zwei Dutzend Gedichte, die beim direkten Vergleich sicher von schwankender Qualität sind, sind schon in ihrer formalästhetischen Anlage so vielfältig, daß man an ihnen die Lyriktheorie der letzten zweihundert Jahre und die Meisterschaft des Lyrikers Becher exemplarisch studieren kann: Vierzeilig-liedhafte Gedichte (unter aanderem aus drei- bis fünfhebigen Trochäenzeilen) stehen neben klassischen italienischen Sonetten (Absage und Das Einmalige), die aus Endecasillabi (jambischen Fünfhebern) gebildet werden, und einem englischen Sonett (Alte Frau am Meer), das jedoch nicht aus Jamben, sondern aus trochäischen Fünfhebern geformt ist. Ein Becher voll Sommer, den in kleinen Dosen zu genießen in Erwartung des nächsten Ostseeurlaubs eine wirklich lyrische Labsal sein kann.

Johannes R. Becher: Wolkenloser Sturm. Ahrenshooper Gedichte. Mit einem Nachwort herausgegeben von Jens-Fietje Dwars, Edition Ornament im quartus-Verlag Bucha bei Jena 2004, 64 Seiten, 14,80 Euro