von Henryk Goldberg
Es war eine Grundsatzentscheidung und ich habe getan, was ein Mann tun muß. Zugegeben, ich habe zunächst ein wenig gezögert, so etwas will überlegt sein. Aber dann sagte mir die sogenannte innere Stimme: »Los Alter, zieh’s durch!« Stimmt schon, altes Mädchen, entgegnete ich meiner inneren Stimme, manchmal muß ein Mann das volle Risiko gehen. Und also ging ich. Und kaufte das Eis. Schoko, zwei Kugeln.
Ich mußte nämlich, in Weimar, zu Helmut Schmidt. Nicht, daß er direkt auf mich gewartet hätte, er wußte womöglich gar nicht, daß ich kommen würde. Aber einer wie er weiß fast nie, wer kommt, es sei denn, er ist mit Mao verabredet oder mit Breshnew oder mit Carter. Aber immerhin, ich würde mich in einem Zimmer befinden mit ihm und niederen Hochmögenden.
Es würde Sekt geben, nicht für mich, und Reden und ganz, ganz viele Krawatten. Und mein bekleckertes Hemd. Denn das war die Entscheidung. Noch ein Eis essen auf der Straße und sich das Hemd bematzen oder ein unbeflecktes Hemd und eben kein Eis. Darauf kann ich wetten, daß das passiert. In der Redaktion stellt sich die Frage auch, wenn es eine andere italienische Nationalspeise in der Kantine gibt, Nudeln. Ich liebe Nudeln, aber, sofern sie nicht in einem Auflauf gebunden sind oder durch Knoblauch, ist es problematisch, sie zu verzehren, ohne die beigefügte geschmacksbildende Flüssigkeit, tomatenrot oder bratenbraun, tropfenweise auf der Brust zu verteilen. Unter den wachsamen Augen der Kollegen fällt die Entscheidung fast immer opportunistisch aus, ich verzichte auf rote Nudeln und rohen Spott.
Aber auf der Straße, ein freier Mann in einem freien Land, on the road again und so, da ist das schwerer. Dabei, ich weiß es vorher, und ich denke daran, während ich esse. Etwa zwei, drei Minuten. Denn kein denkender Mensch kann, während er Eis ißt, immerzu nur daran denken, daß er Eis ist. Aber nur dann, nur in dieser kompromißlosen, exklusiven Konzentration auf die Tüte läge die Chance auf eine kleckerfreie Eisverzehrung. Es darf also meine bekleckerte Heldenbrust als ein Hinweis gelten auf all die schönen, wichtigen Gedanken, die einem so durch den Kopf gehen. Daselbst findet eine Art von Verdrängungswettbewerb statt und Eis und Nudeln verlieren fast immer. Aber das wird nicht so recht estimiert von den Menschen, den meisten. Nichts als Hohn und Spott für einen Denker.
Da kam mir Helmut Schmidt gerade recht. Zwar, den sogenannten Nato-Doppelbeschluß fanden wir Ost-Schreiber damals nicht so toll; aber das haben wir uns wohl gegenseitig verziehen, der alte Kanzler und die alten Schreiber, wir sind alle ein bißchen sanfter geworden. Das Großartige, wenn man sich in einem Raum mit Helmut Schmidt befindet, ist seine Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu absorbieren.
Alle schauen, wie er seine Zigarette raucht, wie er den Schnupftabak schüttelt, alle achten, ihm das Glas abzunehmen oder den Aschenbecher zu reichen. Und kein Schwein sieht den kleinen Schokoeisfleck auf meinem Hemd. Vielleicht auch, weil die hinter den Stühlen der diversen Persönlichkeiten stehende Journaille, wie alle dienstbaren Geister, kaum wahrgenommen wird von den Hochmögenden.
Später, in der Redaktion wiesen mich zirka fünf Kollegen darauf hin: Ich hätte einen Fleck auf dem Hemd. Helmut Schmidt hingegen verlor kein Wort über den Umstand. Da sieht man, was ein Mann von Welt ist.
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