von Frank Ufen
Im Jahre 1895 forderte das französische Forscherehepaar Victor und Cathérine Henri die Leser der damals wichtigsten psychologischen Fachzeitschriften dazu auf, ihre frühesten Erinnerungen zu schildern. An der Befragung beteiligten sich insgesamt 123 Studenten und Wissenschaftler, unter ihnen ein Professor für Philologie. Er berichtete, daß er sich noch gut entsinnen könne, einmal neben einem gedeckten Tisch gestanden zu haben, auf dem sich eine Schale mit Eis befand. Doch merkwürdigerweise, fuhr der Professor fort, sei aus jener Zeit sonst absolut nichts in seinem Gedächtnis haften geblieben – nicht einmal der Tod seiner eigenen Großmutter. Ein Jahr später veröffentlichten die Henris ihre Forschungsergebnisse und erregten damit bald darauf die Aufmerksamkeit von Siegmund Freud. Freud pickte sich flugs die Erinnerung des Philologieprofessors heraus, fand an ihr vieles verdächtig und zog ziemlich gewagte Schlußfolgerungen. Daß die am weitesten zurückreichenden Erinnerungen, erklärte er, sich fast ausschließlich um belanglose Dinge drehen würden, habe durchaus seinen Grund. In Wahrheit handele es sich um Deckerinnerungen, die verdrängten Erinnerungen an traumatische sexuelle Erlebnisse den Zugang zum Bewußtsein versperren würden.
Freud hat nur eine Kleinigkeit übersehen. Um banale und harmlose Angelegenheiten ging es in den allerwenigsten der Erinnerungen, die die Henris zusammengetragen und der wissenschaftlichen Öffentlichkeit präsentiert hatten. Die weitaus meisten handelten von handfesten Erfahrungen mit Dingen und Ereignissen, die Angst und Schrecken oder physische Schmerzen ausgelöst hatten. Zum selben Ergebnis kam später auch der russische Pädagoge und Psychologe Pawel Blonskij. Nahezu drei Viertel der ersten Erinnerungen, die er gesammelt hatte, handelten von körperlichen Verletzungen und bedrohlichen und beängstigenden Situationen: Die Erwachsenen konnten sich deutlich daran erinnern, was sie empfunden hatten, als ihnen die Mandeln herausgenommen wurden, sie aus dem Bett fielen, sich an etwas verbrannten, sich im Wald verirrten, einem aggressiven Hund begegneten oder ihre Mutter im dichten Gedränge auf dem Marktplatz aus den Augen verloren. Von ins Unbewußte verbannten Erlebnissen fand Blonskij nicht die geringsten Spuren. Er erklärte deshalb Freuds Auffassung für Humbug und gab der Evolutionstheorie Recht, die annimmt, daß das menschliche Gedächtnis in erster Linie dazu dient, den Organismus vor allem zu schützen, was ihm gefährlich werden könnte. Freuds Frage, warum überhaupt banale Episoden dauerhaft gespeichert werden, blieb damit allerdings unbeantwortet – und sie ist es bis heute geblieben. Schuld daran, vermutet der niederländische Gedächtnisforscher und Psychologiehistoriker Douwe Draaisma, ist allerdings nicht die Wissenschaft, sondern das Gedächtnis selbst, das seinen eigenen Willen hat und sich launenhaft und unberechenbar verhält.
Das autobiographische Gedächtnis gibt viele Rätsel auf. Nach wie vor ist nicht vollständig geklärt, warum von den ersten Jahren der Kindheit allenfalls Erinnerungsfetzen zurückbleiben – obwohl das Arbeitsgedächtnis zwei- oder dreijähriger Kinder präzise und zuverlässig funktioniert. Eine Theorie – die Draaisma entschieden verwirft – führt diesen Gedächtnisschwund darauf zurück, daß das Gehirn in den ersten Lebensjahren noch zu arm an neuronalen Verbindungen ist, um Erinnerungen für längere Zeit aufbewahren zu können. Andere Theorien hingegen behaupten, daß das Gehirn dazu sehr wohl und von Anfang an im Stande ist, daß aber vieles später nicht mehr abrufbar ist. Wieder eine andere Theorie behauptet, daß das autobiographische Gedächtnis die Fähigkeit voraussetzt, mit sprachlichen Zeichen zu operieren – weil es ohne Sprache nicht möglich ist, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu unterscheiden, zu abstrahieren und zu kategorisieren, sich selbst und anderen Geschichten zu erzählen. Desweiteren gibt es die Auffassung, daß die ältesten Erinnerungen zwar niemals völlig verschwinden, doch dem Bewußtsein mehr und mehr entgleiten, weil sie sich nach einer gewissen Zeit in abstrakte Schemata, Stereotypen und Scripts auflösen – mit der Folge, daß das Gedächtnis fortan in erster Linie dasjenige registriert, was sich den Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschablonen nicht fügt. Und außerdem gibt es noch die Hypothese, die Draaisma am meisten einleuchtet. Sie besagt, daß sich das autobiographische Gedächtnis nicht eher ausbilden kann, eher nicht ein reflektierendes und seiner selbst bewußtes Ich entstanden ist, das gelernt hat, sich in seinen eigenen Erinnerungen wiederzuerkennen.
Man weiß auch nicht genau, wie Déjà-vu-Erlebnisse zu Stande kommen. Und warum kann das autobiographische Gedächtnis nahezu alles vergessen – bloß nicht erlittene Demütigungen und Kränkungen? Warum kann man seine Erinnerungen nicht wie einen Film rückwärts laufen lassen? Und warum sehen Menschen in akuter Lebensgefahr oft ihr Leben wie einen Film an sich vorüberziehen? Diese und etliche andere Phänomene beschreibt und analysiert Draaisma in seinem neuen Buch. Er greift dabei immer wieder auf die Forschungsergebnisse der Psychologie des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts zurück. In seinen Augen hat diese Psychologie den großen Vorzug, die Funktionsweise des autobiographischen Gedächtnisses statt unter künstlichen Bedingungen in der Alltagspraxis analysiert zu haben. Draaisma macht zwar um die Erkenntnisse der Hirnforschung und der Kognitionswissenschaften einen großen Bogen. Und bei ihm kommt zu kurz, was bei John Kotre im Zentrum steht: daß nämlich die lebensgeschichtlichen Erinnerungen auch die Ergebnisse von Konstruktionen und Rekonstruktionen sind, die in starkem Maße von Bedürfnissen und Interessenlagen abhängig sind. Trotzdem: Draaismas exzellent geschriebene Studie hat das Zeug zum Klassiker. Eines der einfallsreichsten und anregendsten Bücher der letzten Zeit.
Douwe Draaisma: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird. Von den Rätseln unserer Erinnerung, Eichborn Verlag Frankfurt am Main, 337 Seiten, 19,90 Euro
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