Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 29. August 2005, Heft 18

Selbst-Opposition

von Sibylle Sechtem

Man darf die SPD noch nicht abschreiben. Sie kann die Wahlen noch gewinnen. Und zwar mittels des Kunststücks, Opposition zu sich selbst zu sein. Parteidarling Matthias Platzeck hat es bei den Landtagswahlen in Brandenburg im vergangenen Jahr vorgemacht. Als im August die Umfragen bei 35 Prozent für die PDS lagen und nur bei 28 Prozent für die SPD, warf er den Hebel resolut auf Oppositionswahlkampf um. Nicht mehr die vierzig Prozent für die SPD im Jahre 1999 oder gar die 54 Prozent von 1994 waren von diesem Moment an der Maßstab, nicht mehr die Tatsache, daß die SPD seit 1990 immer die stärkste Partei gewesen war und daher selbstverständlich die Hauptverantwortung für alle seitherige Entwicklung trug – nein, jetzt fühlte man sich plötzlich als underdog, als Herausforderer. Ganz so wie weiland bei der Oderflut krempelte Deichgraf Platzeck die Ärmel hoch, ging »unter die Menschen« und hielt flammende Reden wider den angeblich übermächtigen Gegner PDS. Rechenschaft ablegen über fünf – ach was, vierzehn! – Jahre Regierungszeit? Aber doch nicht, wenn die Feindabwehr alle Kräfte fordert.
Die Großaufsteller- und Plakatemacher der Partei hatten verstanden. Nichts Inhaltliches präsentierten sie mehr in den letzten Wahlkampfwochen, sondern nur noch Platzeck-Köpfe – mit winzigem SPD-Logo in der Ecke. Nichts Bundespolitisches kam mehr aufs Tapet – Gerhard Schröder hätte nur schaden können. Und auch die Direktkandidaten in den Wahlkreisen fügten sich: »Stimmen für mich sind Platzeck-Stimmen« verkündeten quer über ihre Konterfeis geklebte Eilbotschaften.
Und es hat geklappt. 32 Prozent schaffte die SPD, nur 28 Prozent der gefürchtete Gegner PDS – und bei 20 Prozent endete die von Jörg Schönbohm geführte CDU. Triumph, Triumph!, schallte es aus der SPD-Zentrale – obwohl man gegenüber 1999 acht Prozentpunkte eingebüßt hatte und die SPD/CDU-Koalition von 66 Prozent 1999 auf gerade mal 51 Prozent abgesackt war. Triumph, Triumph!, obwohl alle wußten, daß nicht der Partei, sondern einzig ihrem Spitzenkandidaten der Erfolg zu danken war. Weil der den David zu geben vermocht hatte – egal, ob da wirklich ein Goliath war.
Und nun spielt Gerhard Schröder das gleiche Spiel. Auch er nun ein David – gegen den Goliath CDU/CSU. Nicht die eigene Politik der vergangenen Jahre ist sein Maßstab, sondern die Umfragewerte sind es. Helft mir, ruft es aus dem Kanzleramt, gegen die Übermacht der Schwarzen! Wählt mich, damit euch nichts Schlimmeres widerfährt! Wählt mich, damit ich das ALG II Ost an das ALG II West angleichen kann! Wählt mich für ein höheres Erziehungs- und Kindergeld! Wählt mich für dies und jenes, das ich euch verspreche – aber fragt mich um Gottes Willen nicht, warum ich genau das in den vergangenen sieben Jahren nicht zustandegebracht habe.
Und das Verrückte ist: Es könnte klappen, dieses Spiel. Nicht, weil da plötzlich tatsächlich überzeugende SPD-Politik anläge. Aber weil der scheinbar zum underdog gewordene Kanzler den einen oder anderen Bonus einheimsen kann. Da geht es zwar nicht um Inhalte, aber was soll’s? Einen Mannesbonus wird er kriegen – erstens sowieso, und zweitens, weil Angela Merkel ihm mit ihren Schwächen und Unsicherheiten direkt in die Hände spielt. Einen Mitleidsbonus wird er kriegen, wie ihn jeder kriegt, der beim Fußball zehn Minuten vor Spielende 0:2 hinten liegt. Und einen Sympathiebonus wird er kriegen, weil: »So einen Abgang hat er ja nun wirklich nicht verdient.«
Weitere Gutschriften bekommt Schröder vom vermeintlichen Goliath CDU/CSU direkt. Brandenburgs Innenminister Schönbohm hat das Stück »Ostbeschimpfung« ja nicht erst in diesem Jahr gestartet – nein, auch im Landtagswahlkampf 2004 hat er sich schon um Kopf und Kragen geredet, die CDU von 27 auf 20 Prozent heruntergefahren und damit der SPD die Bahn zum Wahlsieg freigemacht. Nun kämpft auch Edmund Stoiber seinen vehementen »Wählt-lieber-Schröder«-Kampf, und andere Unionsgranden folgen ihm.
Matthias Platzeck übrigens hat sich 2004 – wie sein Amtsvorgänger Manfred Stolpe 1999 auch – mit der CDU im allgemeinen und Rechtsaußen und Wahlverlierer Schönbohm im besonderen zur Koalition verbunden, weil so »sozialdemokratische Politik besser verwirklicht werden kann als mit jedem anderen«. Na, das ist doch ein Wort.