von Martin Bemmann
Abfallvermeidung, Wiederverwertung, Mülltrennung, Schrottsammlung. Das sind keine Stichworte eines grünen Parteiprogramms, sondern die Schlagworte eines weitgehend vergessenen Kapitels der nationalsozialistischen deutschen Geschichte. Mit der Aufrüstung in den 1930er Jahren war ein Streben nach wirtschaftlicher Autarkie einhergegangen. Mit ihr sollten im Kriegsfall die negativen Folgen einer alliierten Seeblockade, wie sie im Ersten Weltkrieg zustandegekommen war, verhindert werden. Neben anderem wurde eine Zentralisierung und Intensivierung der vorhandenen Altstofferfassung und -verwertung verfolgt.
Die Koordinierung dieser Bemühungen übernahm im Oktober 1936 die Geschäftsgruppe Rohstoffverteilung in der neuen Vierjahresplan-Behörde, die Deutschland innerhalb von vier Jahren kriegsfähig machen sollte. Nach der Auflösung dieser Geschäftsgruppe wurde im August 1937 ein Reichskommissar für die Altmaterialverwertung ernannt. Auf regionaler Ebene erhielten die Gauleiter die Verantwortung für dieses Ressort.
Lumpen und Schrott standen bis Mitte der 1930er Jahre im Mittelpunkt des Interesses, weil damit etwas zu verdienen war. Dann wollten die Nazis jedoch alles Wiederverwendbare sammeln und verwerten lassen. Der Leiter der Geschäftsgruppe Rohstoffverteilung sah 1936 »Millionenwerte« im Müll, die »dem deutschen Volk und seiner Wirtschaft … wieder gerettet werden« müßten. Große Bedeutung käme Schrott und Lumpen zu, aber auch Papier (welches bis dahin in Haushalten kaum gesammelt worden war), Knochen, Tuben und anderen, nur in kleinen Mengen anfallenden Altstoffen. Im Krieg wurde dieser Katalog noch erweitert – um Haare, Borsten, Federn et cetera.
Mehrere Maßnahmen sollten die Sammelergebnisse erhöhen. Ab August 1937 sollten Großstadtbewohner ihren Müll trennen, um Altstoffe besser zu erfassen. Außerdem wurden in großen Häuserblocks mehrere Container für die zu trennenden Altstoffe aufgestellt, um die Arbeit der Sammler zu erleichtern. Ende 1937 wurden im ganzen Reich Pflichtsammelbezirke eingerichtet. Jedem dieser Bezirke war ein Sammler zugeordnet, der jeden dort befindlichen Haushalt mindestens einmal im Monat aufsuchen und nach Altstoffen befragen sollte. Nach dem Absammeln des eigenen Bezirkes war es den Sammlern erlaubt, in einem 50-Kilometer-Radius weitere Haushalte aufzusuchen. Jeder Sammler bekam eine Liste der zu sammelnden Altstoffe, einen Ausweis, der seinen Bezirk benannte, eine Armbinde und die Auflage, den Handwagen einheitlich anzustreichen. Diese Zwangsmaßnahmen führten auch zu Konflikten zwischen den Sammlern, da sich die neuen Sammelbezirke manchmal mit alten »Gewohnheitsgrenzen« überschnitten. Andererseits konnten aufgrund des allgemeinen Arbeitskräftemangels und der fortschreitenden Verdrängung der Juden gar nicht alle Pflichtsammelbezirke besetzt werden.
Juden und andere von den Nazis Ausgegrenzte hatten bis Mitte der 1930er Jahre einen großen Teil der Altstoffsammler und -händler ausgemacht. Mit der zentralen Steuerung der Branche begann ihre Herausdrängung aus diesem Metier. Außerdem sollte das bisher negative Berufsbild durch eines ersetzt werden, das der gestiegenen Bedeutung der Wiederverwertung Rechnung trug und in dem die genannten Bevölkerungsteile nach dem Willen des Regimes keinen Platz mehr haben sollten. Die Verdrängung erreichte Ende 1938 ihren Höhepunkt, als allen Juden eine weitere Betätigung untersagt und viele Betriebe »arisiert« wurden. Die Zahl der Sammler und Händler sank stark, da für die Ausgeschlossenen nur wenige nachkamen. Zum einen hatte das schlechte Image des Berufszweiges nicht verbessert werden können, zum anderen versprachen viele Arbeitsplätze, vor allem in der Rüstungsindustrie, selbst minderqualifizierten Arbeitern bessere Einkünfte. Um diese Unbill zu beheben, wurden Parteigliederungen (vor allem SS und HJ) und Schulen aufgefordert, Sammlungen durchzuführen, was den Arbeitskräftemangel aber nicht behob.
Der wirtschaftliche Erfolg der Maßnahmen läßt sich mangels Quellen schwer ermitteln. Fest steht jedoch, daß nach der Berufung des Reichskommissars die gesammelte Altstoffmenge anstieg. So konnte eine gewisse Verminderung von Rohstoffimporten erreicht werden, wenngleich die Produktion synthetischer Rohstoffe dazu einen wesentlich höheren Beitrag leistete. Die von der Behörde veranschlagten Planzahlen zu erfassender Altstoffe wurden meist nicht erreicht, die erzielten Ergebnisse aber trotzdem als Erfolg propagiert.
Mit der zentralen staatlichen Lenkung der Altstoffsammlung hoffte das Regime, die »Volksgemeinschaft« zu festigen. Durch intensive Propaganda, die bis 1945 immer wieder zu Sparsamkeit, Sortierung und Sammlungen aufrief, sollte jedem Deutschen klargemacht werden, daß er ein Teil dieser Volksgemeinschaft sei. Vor allem bei Schülern und in der HJ sollte das Gemeinschaftserlebnis des Sammelns dieses Gefühl verstärken. Durch die Sammlungen würden alle zu einer besseren Rohstoffversorgung beitragen.
Zugleich ermöglichte die zentrale staatliche Lenkung eine stärkere Kontrolle der Bevölkerung. Die Kontrollmöglichkeiten des Regimes erweiterten sich natürlich vor allem gegenüber den Sammlern und Händlern, die durch die zentrale Registrierung einer verstärkten Aufsicht des Staates unterworfen waren; außerdem konnten sie aufgrund der Uniformierung leicht erkannt und identifiziert werden. Aber auch die restliche Bevölkerung fühlte sich stärker kontrolliert – weil die Sammler verpflichtet waren, jeden Haushalt regelmäßig aufzusuchen und damit Zugang zur Privatsphäre erhielten.
Zeitzeugen erinnern sich häufig an die Sammelaktionen sowie an die intensive Propagandatätigkeit (Kampf dem Verderb). Ob allerdings diese Propaganda oder die allgemeine Knappheit an Waren oder der von Staat und Partei ausgeübte Zwang zur Steigerung der Sammel- und Verwertungsergebnisse führte, läßt sich im nachhinein nicht seriös bewerten.
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