Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 15. August 2005, Heft 17

Klassenrassismus

von Jörn Schütrumpf

Der Peter Hintze des Jahres 2005 heißt Jörg Schönbohm und ist General. 1994 hatte der Pfarrer und damalige CDU-Generalsekretär Hintze die SPD mit einer »Roten-Socken-Kampagne« diffamiert, Anhängsel der Ost-Sozialisten werden zu wollen. Im Westen ging Hintzes Rechnung auf, während er im Osten einen Kollateralschaden verursachte. Nicht zuletzt dank Hintze erhielten plötzlich die tapferen, jedoch längst totgesagten und mehr noch totgeschwiegenen demokratischen Sozialisten (1990: 2,9 Prozent der Wählerstimmen) in den Medien Aufmerksamkeit und in der Gesellschaft des Ostens vermehrten Zuspruch. Doch Hintze rettete für die CDU das Kanzleramt. Die großen Verlierer waren der SPD-Vorsitzende  und seine Partei. Seitdem sehen sich die – das linke Monopol beanspruchenden – Sozialdemokraten, die seit 1980 schon von den Grünen gepiesackt werden, im eigenen Lager einem zweiten Konkurrenten gegenüber.
In diesem Jahr möchte nun Jörg Schönbohm Lothar Biskys »bester Mann« werden. Der brandenburgische CDU-Vorsitzende und Innenminister hat zweimal lausige Landtagswahlergebnisse eingefahren und amtiert trotzdem in der SPD-geführten Regierung Platzeck. Schönbohm weiß, daß die CDU die Bundestagswahlen nur im Westen gewinnen kann, vorausgesetzt, es gelingt gleichzeitig – anders als 2002 –, die SPD im Osten niederzuhalten: notfalls durch eine erstarkte Linkspartei.
Mit seiner Diagnose, die DDR trage eine Mitschuld am neunfachen Babymord in Brandenburgs Osten, hat Schönbohm abermals sein strategisches Talent unter Beweis gestellt: Dem Westen hat endlich wieder einer einmal gesagt, wo in Deutschland die wirklich anständigen Menschen leben. (Schade nur, daß es sich nicht ziemt, dazu laut zu applaudieren. Doch des heimlichen Beifalls und damit vieler »West«-Stimmen für die CDU kann sich Schönbohm sicher sein.) Und der sich wegen des Hartz-IV-Sozialterrors ohnehin im Aufschwung befindenden Linkspartei.PDS werden sich im Osten die Wähler nun noch treuer zuwenden.
Das alles ist von Schönbohm ebenso schäbig, wie es durchsichtig ist. Doch nach all dem Unrat, der in den vergangenen Jahren über den Osten ausgeschüttet wurde – ohne daß Linke mit Westsozialisation auch nur einmal selbstgefährdend, also mutig, dagegen aufgetreten wären –, hat mich Schönbohms Ausfall nicht so sehr erschüttert. Erschüttert hat mich etwas anderes: Alle, die sich empörten – vom klugen Gunnar Decker bis hin zur Birthler-Behörden-Chefin –, stellten sich zwar zu Recht schützend vor den Osten und »unsere Menschen«, doch erkannten sie den viel größeren Skandal nicht: Schönbohms Klassenrassismus.
Zitat: »Die ländlich strukturierten Räume Ostdeutschlands sind stärker verproletarisiert als ein eher städtisch geprägtes Land wie Sachsen, wo ein Teil des Bürgertums die SED-Diktatur überlebt hat … (I)ch glaube, dass die von der SED erzwungene Proletarisierung eine der wesentlichen Ursachen ist für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft.
Tagesspiegel: Was bedeutet ›Proletarisierung‹?
Mit der Kollektivierung der Landwirtschaft durch die SED in den 50er Jahren ging der Verlust von Verantwortung für Eigentum einher, für das Schaffen von Werten.«
Botschaft: Wer kein Eigentum hat, tendiert zu Verwahrlosung und Gewalt. Und im Umkehrschluß: Wer Verantwortung für Eigentum ausübt – nach Schönbohm also Teil des Bürgertums ist –, bringt auch niemanden so schnell um. Jeder Prolet, und die gibt es wahrlich nicht nur im Osten Deutschlands (dort unterdessen sogar am wenigsten), ist nach dieser Logik ein potentieller Totschläger. Erst das Eigentum macht den Menschen zum Menschen; erst mit Eigentum fängt Menschlichkeit an.
Dieses Menschenbild datiert aus der Zeit vor der Aufklärung; es ist weder christlich noch demokratisch, sondern feudal-totalitär. Aber daran scheint sich in diesem Lande niemand ernsthaft zu stören – sowie auch nicht daran, daß sich Jörg Schönbohm Hoffnungen macht, nach der Wahl vom 18. September ein Bundesministerium zu übernehmen.