von Mathias Iven
In den ersten Septembertagen des Jahres 1939 begann Heinrich Mann im französischen Exil mit Aufzeichnungen, die in dieser Form jetzt erstmals ihre Leser finden. Inhaltlich stehen sie in unmittelbarem Bezug zu dem 1922 begonnenen und ebenfalls erst unlängst veröffentlichten Briefwechsel mit Félix Bertaux (dazu Blättchen 6/2003). Dem Text ist ein im kalifornischen Exil entstandener Rückblick vom Jahre 1941 auf das Jahr 1939 vorangestellt. Darin bekennt Heinrich Mann: »Ich bin nach Herkunft, Erziehung, Schicksal ein kontinentaler Europäer, nichts weiter.« Und diesem Europäer war Europa »ein sehr grosser Gegenstand, ein unvergleichlich grösserer als seine Kriege, mitsamt diesem letzten«.
Man mag den Text, dessen wesentliche Teile in Manns Memoiren Ein Zeitalter wird besichtigt einflossen, in seinen Inhalten als problematisch empfinden. Aber wichtig sind nicht nur Manns historische Irrtümer oder seine Kritik an Hitler und Stalin, dem »Verräter-Genie«, das erst im Zeitalter eine Rehabilitierung erfährt und dort gleichberechtigt neben Roosevelt und Churchill steht. »Die folgenden Aufzeichnungen«, so betont Heinrich Mann, »beabsichtigen den Ereignissen ihre, mit ihnen geborene Bedeutung zu lassen.« Solch eine Darstellungsweise bringt es mit sich, daß eine Bewertung im nachhinein unterbleibt: »Die Irrtümer sind wörtlich stehen geblieben, ich bereue sie nicht. Die Irrtümer sind, was am Reichlichsten lohnt. Gegen die augenfällige Wirklichkeit gehalten, zeigen sie, wer wir waren und warum.« Eine konsequente Haltung!
Von »Tag zu Tag« ist Heinrich Mann den Vorgängen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges gefolgt, hat die Hoffnungen um ihn »her gesammelt, mit eingeschlossen die Vorzeichen ihres Zusammenbruches. Meine geheime Tätigkeit des schriftlichen Aufbewahrens geschah in dem Frankreich, das währenddessen seine Republik hinrichten liess.« Für Mann sicherlich der Punkt, der ihn am meisten erschütterte, hatte er doch gerade für dieses Land immer »eine geistige Liebe gefühlt, umfassend genug, dass sie den Jüngling begleitete, den Mann ermutigte und standhält meinem Alter und was es sehen muss. Meine Bildung, so viel oder wenig ich erworben habe, gehört zu gleichen Teilen dem Lande meiner Geburt und dem anderen, beispielhaften.«
In den Briefen an Bertaux hieß es im August 1924: »Nur Frankreich hat die Stellung, dem Kontinent die Einigung begreiflich zu machen, ja, aufzuerlegen.« Zu Beginn des Krieges sieht Mann die Situation etwas anders: Nicht Frankreich, sondern England wird ihm jetzt zur Hoffnung für Europa: »Verbündet wie es ist, mit dem Bekenntnis der Menschenrechte, glaube ich eher, dass es bestehen und dass Europa bestehen wird, weil England gekämpft hat.« Derartige Formulierungen machen dann auch endlich den Titel des Buches verständlich: »Mein Buch vom Krieg stellt sich von selbst unter einen Namen, seinesgleichen ist kein zweiter. Winston Churchill … Sein Verdienst ist, dass er heute … aus der britischen [Nation] die ehrenhafteste auf Erden macht.«
Schon sehr früh finden sich Überlegungen für die Zeit nach dem Krieg. So notierte er am 17. November 1939: »Für Deutschland, was aus ihm werden soll, heisst die Frage keineswegs: welche Grenzen, und ob sogar innere Grenzen. Das Problem der Erziehung ist alles. Jeder Deutsche politisch-sittlich neu erzogen, jeder Deutsche überzeugt, dass die Politik eine Angelegenheit nicht eines amoralischen Staates sondern des sittlich bestimmten Menschen ist: Europa wird anders gesichert sein, als mit einem aufgeteilten, sehr vorläufig aufgeteilten Deutschland.«
Für Heinrich Mann ging es aber nie nur allein um die Fragen Deutschland und/oder Europa, denn demgegenüber sah er Deutschland immer auch als gleichberechtigten Partner in Europa. So ist drei Tage später zu lesen: »Die neue Aufgabe ist die übernationale Gemeinschaft Europas.« Und am Ende des Jahres erklärte er: »Die europäische Conföderation, wer hoffte wohl nicht, dass sie errichtet wird, angenommen wird, Glauben findet und Gewinn bringt. … Die soziale Neuordnung begleitet unabweisbar die internationale. Kollektiv und übernational, ich gebe Europa, nur wenn es beides in seine Entschlüsse aufnimmt, die Zukunft, die es verdient.«
Heinrich Manns Aufzeichnungen machen einmal mehr deutlich, welche Bedeutung der Europa-Gedanke für sein politisches Denken hatte. Und so haben wir hier – mit Blick auf die gegenwärtigen Entwicklungen – nicht nur ein historisch wichtiges Buch vor uns.
Heinrich Mann: Zur Zeit von Winston Churchill, S. Fischer Verlag Frankfurt a. M. 2004, 544 Seiten, 22,90 Euro
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